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Extrem laut und unglaublich nah

Extrem laut und unglaublich nah

Titel: Extrem laut und unglaublich nah Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Safran Foer
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Tages, an dem ich sie zum ersten Mal hatte verlassen wollen: »Ich war nicht immer stumm, ich konnte reden und reden und reden und reden.« Ich wusste nicht recht, ob sie allmählich Mitleid mit mir hatte oder sich selbst bemitleidete, aber sie fing an, mir kurze Besuche abzustatten, anfangs schwieg sie, sie räumte nur das Zimmer auf, fegte Spinnweben aus den Ecken, saugte den Teppich, richtete die Bilderrahmen, und eines Tages, sie wischte gerade den Staub vom Nachtschrank, sagte sie: »Ich kann dir vergeben, dass du gegangen bist, aber dass du zurückgekehrt bist, vergebe ich dir nicht«, sie verließ das Zimmer und schloss die Tür hinter sich, ich bekam sie drei Tage nicht zu Gesicht, und danach war es, als hätte sie nie etwas gesagt, sie wechselte eine Glühlampe aus, die noch funktionierte, sie nahm Dinge zur Hand und legte sie wieder hin, sie sagte: »Ich werde diese Trauer nicht mit dir teilen«, sie schloss die Tür hinter sich, war ich ein Gefangener oder der Wärter? Ihre Besuche wurden länger, wir sprachen nicht miteinander, und sie schaute mich nie an, aber irgendetwas war in Gang gekommen, kamen wir uns wieder näher oder entfremdeten wir uns noch weiter voneinander, ich ergriff die Gelegenheit und fragte sie, ob sie mir Modell stehen wolle wie damals nach unserer ersten Begegnung, sie wollte etwas erwidern, blieb aber stumm, sie berührte mich an der linken Hand, die ich unbewusst zur Faust geballt hatte, stimmte sie damit zu oder war es einfach nur eine Berührung? Ich ging zu dem Laden für Künstlerbedarf und kaufte Ton, ich konnte mich nicht beherrschen, die Pastellkreiden in ihren langen Schachteln, die Spachtel, die Rollen handgeschöpften Papiers, ich probierte alle Muster aus, ich schrieb meinen Namen mit einem blauen Stift und mit grüner Ölkreide, mit einem orangefarbenen Buntstift und mit Zeichenkohle, ich hatte das Gefühl, als würde ich den Vertrag meines Lebens unterschreiben. Ich blieb über eine Stunde in dem Laden, obwohl ich eigentlich nur einen Klumpen Ton kaufen wollte, als ich nach Hause kam, wartete sie im Gästezimmer auf mich, sie stand im Bademantel neben dem Bett, »Hast du irgendwelche Skulpturen gemacht, während du fort warst?« Ich schrieb, ich hätte es versucht, aber nicht gekonnt, »Keine Einzige?« Ich zeigte ihr die rechte Hand, »Hast du dir Skulpturen ausgedacht? Hast du im Geist welche gemacht?« Ich zeigte ihr die linke Hand, sie zog sich den Bademantel aus und setzte sich aufs Sofa, ich mochte sie nicht anschauen, ich holte den Ton aus der Plastiktüte und stellte ihn auf den Kartentisch, »Hast du je daran gedacht, eine Skulptur von mir zu machen?« Ich schrieb: »Wie möchtest du posieren?« Sie erwiderte, ich müsse das entscheiden, denn es sei ja meine Sache, ich wollte wissen, ob der Teppich neu sei, sie sagte: »Sieh mich an«, ich versuchte es, vergeblich, sie sagte: »Sieh mich an oder verschwinde. Aber bleiben und etwas anderes ansehen, das geht nicht.« Ich bat sie, sich auf den Rücken zu legen, aber es passte nicht, ich bat sie, sich hinzusetzen, es passte nicht, ich schrieb: »Verschränk die Arme vor der Brust, dreh den Kopf zur Seite«, nichts passte, sie sagte: »Zeig mir, wie«, ich ging zu ihr, ich löste ihr Haar, ich drückte sie an den Schultern tiefer, wir waren uns so fern, ich wollte sie trotzdem berühren, sie sagte: »Seit du gegangen bist, bin ich nicht mehr berührt worden, nicht auf diese Art.« Ich zog meine Hand weg, sie nahm sie und drückte sie wieder auf ihre Schulter, ich wusste nicht, was ich sagen sollte, sie fragte: »Und du?« Was nützt eine Lüge, wenn sie sowieso nichts mehr rettet? Ich zeigte ihr meine linke Hand. »Wer hat dich berührt?« Mein Tagebuch war voll, also schrieb ich auf die Wand: »Ich hätte so gern ein Leben gehabt.« »Wer?« Ich war erstaunt über meine Ehrlichkeit, sie wanderte durch meinen Arm nach unten und kam zum Stift heraus: »Ich habe dafür bezahlt.« Sie behielt ihre Haltung bei: »Waren sie hübsch?« »Darum ging es gar nicht.« »Trotzdem – waren sie hübsch?« »Manche schon.« »Du hast ihnen einfach Geld gegeben, und das war es?« »Ich habe mich gern mit ihnen unterhalten. Ich habe von dir erzählt.« »Soll das ein Trost sein?« Ich starrte den Ton an. »Hast du ihnen erzählt, dass ich schwanger war, als du gegangen bist?« Ich zeigte ihr meine linke Hand. »Hast du ihnen von Anna erzählt?« Ich zeigte ihr meine linke Hand. »Hat dir eine von ihnen wirklich etwas bedeutet?«

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