Extrem laut und unglaublich nah
man, ob New York Bleifüße hatte. Und bei einer echten Katastrophe – der Explosion einer Atombombe oder mindestens bei einem Angriff mit biologischen Waffen – wür de eine superlaute Sirene losgehen und alle Menschen in den Central Park rufen, damit sie mit Sandsäcken einen Damm um das Reservoir errichteten.
Wie auch immer.
Am nächsten Morgen sagte ich Mom, ich sei krank und könne nicht zur Schule. Das war die allererste Lüge, die ich ihr je erzählen musste. Sie legte mir eine Hand auf die Stirn und sagte: »Ja, du fühlst dich tatsächlich ein bisschen heiß an.« Ich sagte: »Ich habe Fieber gemessen, und ich habe 39,8.« Das war die zweite Lüge. Sie drehte sich um, und obwohl sie es auch allein konnte, bat sie mich, hinten den Reißverschluss ihres Kleides hochzuziehen, denn sie wusste, wie gern ich das tat. Sie sagte: »Ich habe den ganzen Tag Sitzungen, aber wenn du etwas brauchst, kann Oma kommen, und ich rufe dich jede Stunde an.« Ich sagte zu ihr: »Wenn ich nicht rangehe, schlafe ich oder bin gerade auf Klo.« Sie sagte: »Geh ran.«
Sobald sie zur Arbeit gefahren war, zog ich mich an und ging nach unten. Draußen vor dem Haus fegte Stan gerade den Bürgersteig. Ich versuchte, mich an ihm vorbeizuschleichen, aber er bemerkte mich. »Du siehst nicht besonders krank aus«, sagte er und fegte ein Büschel Blätter auf die Straße. Ich erwi derte: »Ich fühle mich aber krank.« Er fragte: »Und wohin geht Mr Fühlt-sich-krank?« Ich sagte: »Zur Drogerie in der 84. Stra ße, um Hustenbonbons zu kaufen.« Lüge Nr. 3. In Wahrheit wollte ich zum Schlüsselladen in der 79. Straße, Frazer & Sons.
»Willst du wieder den Schlüssel nachmachen lassen?«, fragte Walt. Wir klatschten uns kumpelhaft die Hände ab, und dann zeigte ich ihm den Schlüssel, den ich gefunden hatte, und fragte ihn, wofür er sein könnte. »Der ist für irgendeine abschließbare Kassette«, sagte Walt, der sich den Schlüssel vors Gesicht hielt und ihn über den Rand seiner Brille betrachtete. »Wahrscheinlich für einen Safe. Das sieht man an der Form.« Er zeigte auf ein Regal mit sechsundneunzig Schlüsseln. Ich hat te sie gezählt, deshalb wusste ich, wie viele es waren. »Keiner ist wie deiner, siehst du? Deiner ist viel dicker. Viel stabiler.« Ich berührte jeden Schlüssel im Regal, und aus irgendeinem Grund ging es mir dadurch besser. »Aber ich glaube nicht, dass er für einen richtigen Tresor ist. Eher für einen kleineren Safe. Vielleicht für einen tragbaren. Oder für ein Schließfach im Tresorraum einer Bank. Ein altes. Oder für eine feuerfeste Schatulle.« Ich musste kurz lachen, weil »Schatulle« so super altmodisch klang. »Der Schlüssel ist alt«, sagte er. »Vielleicht zwanzig oder dreißig Jahre.« »Woher wissen Sie das?« »Schlüssel sind mein Beruf.« »Sie sind ganz schön cool.« »Und es gibt nicht mehr viele Kassetten mit normalen Schlössern.« »Nein?« »Man benutzt doch kaum noch Schlüssel.« »Ich benutze Schlüssel«, sagte ich und zeigte ihm meinen Wohnungsschlüssel. »Ja, ich weiß«, sagte er. »Aber Menschen wie du sind eine aussterbende Art. Heutzutage ist alles elektronisch. Zahlencodes. Fingerabdruckerkennung.« »Wie schrecklich.« »Ich mag Schlüssel.« Ich überlegte kurz, und auf einmal bekam ich superschwere Bleifüße. »Aber wenn Menschen wie ich eine aussterbende Art sind, was passiert dann mit Ihrem Laden?« »Ich muss mich spezialisieren«, sagte er, »so ähnlich wie Läden für Schreibmaschinen. Im Moment ist mein Laden nur nützlich, aber bald wird er interessant sein.« »Vielleicht müssen Sie den Beruf wechseln.« »Ich mag meinen Beruf.«
Ich sagte: »Mir ist gerade eine Frage durch den Kopf gegan gen.« »Schieß los.« »Schieß los?« »Schieß los. Sprich es aus. Frag.« »Sind Sie Frazer, oder sind Sie der Sohn?« »Der Enkel, um genau zu sein. Mein Großvater hat den Laden gegründet.« » Cool .« »Aber vermutlich bin ich auch der Sohn, weil mein Vater bis zu seinem Tod den Laden geführt hat. Und Frazer bin ich wahrscheinlich auch, weil mein Sohn mir im Sommer bei der Arbeit hilft.«
Ich sagte: »Ich habe noch eine Frage.« »Schieß los.« »Glau ben Sie, dass ich die Firma ausfindig machen kann, die diesen Schlüssel hergestellt hat?« »Den hätte jeder herstellen kön nen.« »Tja, aber wie soll ich dann das Schloss finden, zu dem er passt?« »Da kann ich dir leider auch nicht helfen, außer, dass du ihn bei jedem Schloss ausprobierst, das du
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