Extrem laut und unglaublich nah
Wald nicht gesehen.« »Welchen Wald?« »Nichts.«
»Mom?« »Ja?« »Ich finde es nicht so toll, wenn du sagst, dass ich dich in bestimmten Dingen an Dad erinnere.« »Oh. Ent schuldigung. Sage ich das oft?« »Du sagst es die ganze Zeit.« »Ich kann verstehen, dass du das nicht so toll findest.« »Und Oma sagt immer, dass ich sie in bestimmten Dingen an Opa erinnere. Das finde ich blöd, weil Dad und Opa nicht mehr le ben. Und außerdem habe ich dann das Gefühl, nichts Beson deres zu sein.« »Das ist das Letzte, was Oma und ich wollen. Du weißt doch, dass du für uns etwas Besonderes bist, oder?« »Ich glaube schon.« »Etwas ganz , ganz Besonderes.«
Sie streichelte eine Weile meinen Kopf, und ihre Finger glitten hinter mein Ohr zu der Stelle, an der man fast nie be rührt wird.
Ich fragte sie, ob ich nochmal ihren Reißverschluss zu zie hen dürfe. Sie sagte: »Klar«, und zog ihn wieder halb runter. Sie sagte: »Ich glaube, es wäre gut, wenn du versuchen würdest, zur Schule zu gehen.« Ich sagte: »Ich versuche es ja.« »Wenigs tens bis zur ersten großen Pause.« »Aber ich kann doch gar nicht aufstehen.« Lüge Nr. 6. »Und Dr. Fein hat mir geraten, auf meine Gefühle zu hören. Er hat gesagt, ich solle mir ab und zu eine Pause gönnen.« Das war keine richtige Lüge, aber auch nicht die ganze Wahrheit. »Ich möchte nur, dass es nicht zur Angewohnheit wird«, sagte sie. »Bestimmt nicht«, sagte ich. Als sie auf meine Bettdecke fasste, merkte sie offenbar, wie dick sie war, denn sie fragte mich, ob ich angezogen sei. Ich er widerte: »Ja, und zwar, weil mir kalt ist.« Lüge Nr. 7. »Heiß ist mir natürlich sowieso.«
Sobald sie weg war, suchte ich meine Sachen zusammen und ging nach unten. »Du siehst besser aus als gestern«, mein te Stan. Ich sagte ihm, er solle sich um seinen eigenen Kram kümmern. Er sagte: »Oh, Mann.« Ich erwiderte: »Ist doch nur, weil ich mich heute schlechter fühle als gestern.«
Ich ging zum Laden für Künstlerbedarf in der 93. Straße, und ich fragte die Frau an der Tür, ob ich ihren Chef sprechen könne, denn genau das hatte Dad bei einer wichtigen Frage auch immer getan. »Was kann ich für dich tun?«, fragte sie. »Ich möchte Ihren Chef sprechen«, sagte ich. Sie sagte: »Ich weiß. Was kann ich für dich tun?« »Sie sind unbeschreiblich schön«, sagte ich zu ihr, denn sie war dick, und ich hielt das für ein besonders tolles Kompliment und hoffte, dass sie mich da nach wieder mochte, obwohl ich ein Sexist war. »Danke«, er widerte sie. Ich sagte: »Sie könnten ein Filmstar sein.« Sie schüttelte den Kopf, als wollte sie sagen: Was zum? »Wie auch immer«, sagte ich, und ich zeigte ihr den Umschlag und er klärte ihr, dass ich darin einen Schlüssel gefunden hätte und das passende Schloss dafür zu finden hoffte und das Wort ›Black‹ vielleicht irgendwie von Bedeutung sei. Ich wollte wissen, was sie mir über die Farbe Schwarz erzählen konnte, denn in Farben musste sie ja wohl Expertin sein. »Tja«, sagte sie, »ich weiß nicht, ob ich in irgendwas Expertin bin. Aber ich finde es immerhin auffällig, dass das Wort ›Black‹ mit einem roten Stift geschrieben worden ist.« Ich fragte sie, warum das auffällig sei, denn ich war davon ausgegangen, dass Dad einen der roten Stifte dafür benutzt hatte, mit denen er immer beim Lesen die New York Times korrigierte. »Komm mit«, sagte sie, und sie führte mich zu einem Regal, in dem zehn Stifte stan den. »Schau mal.« Sie zeigte auf einen Block, der neben den Stiften lag.
»Siehst du?«, sagte sie. »Die meisten Leute schreiben die Far be des Stiftes, den sie ausprobieren.« »Warum?« »Keine Ah nung. Ist vermutlich so ein psychologisches Ding.« »Ist psy chologisch gleich geistig?« »Im Grunde schon, ja.« Ich dachte nach, und dann kam mir die Erkenntnis, dass ich das Wort ›blau‹ schreiben würde, wenn ich einen blauen Stift auspro bierte. »Was dein Dad gemacht hat – dass er den Namen einer Farbe in einer anderen Farbe geschrieben hat –, ist nicht ein fach. Auf jeden Fall eher unnatürlich.« »Wirklich?« »Das hier ist noch schwieriger«, sagte sie, und sie schrieb etwas auf den nächsten Zettel und bat mich, es laut vorzulesen. Sie hatte Recht, es war ziemlich unnatürlich, denn einerseits wollte ich den Namen der Farbe sagen, und andererseits wollte ich sa gen, was sie geschrieben hatte. Am Ende sagte ich gar nichts.
Ich fragte sie, was es ihrer Meinung nach zu bedeuten habe.
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