Extrem laut und unglaublich nah
mich irrsinnig, und ich ver passte mir einen blauen Fleck. Dads Handschrift sah krass aus. Sie wirkte flüchtig, als hätte er es eilig gehabt oder sich das Wort beim Telefonieren notiert oder als wäre er einfach nur mit den Gedanken woanders gewesen. Aber worüber hatte er nachgedacht?
Ich googelte herum und fand heraus, dass es keine Firma namens Black gab, die Schlüssel herstellte. Ich war ein bisschen enttäuscht, weil es eine logische Erklärung gewesen wäre, und logische Erklärungen sind immer die besten, wenn auch leider nicht die einzigen. Dann fand ich heraus, dass es in jedem Staat der USA einen Ort namens Black gibt, ja in fast jedem Land der Welt. In Frankreich gibt es zum Beispiel einen Ort namens Noir. Das half mir nicht groß weiter. Weil ich nicht anders konnte, suchte ich noch ein bisschen herum, aber es bedrückte mich. Einige der Bilder, die ich gefunden hatte, druckte ich aus – ein Hai, der ein Mädchen angreift, ein Mann, der zwischen den Twin Towers auf einem Seil balanciert, die Schauspielerin, die von ihrem richtigen Freund einen geblasen bekommt, ein Soldat, der im Irak geköpft wird, die Stelle einer Wand, an der ein berühmtes Gemälde hing, bevor es gestohlen wurde –, und ich tat die Bilder ins Was-ich-erlebt-habe, mein Album für alles, was in meinem Leben passiert.
Am nächsten Morgen sagte ich Mom, dass ich wieder nicht zur Schule gehen könne. Sie fragte mich, was nicht stimme. Ich erwiderte: »Das, was immer nicht stimmt.« »Bist du krank?« »Ich bin traurig.« »Wegen Dad?« »Wegen allem.« Sie setzte sich neben mich aufs Bett, obwohl sie es eigentlich eilig hatte. »Was heißt ›wegen allem‹?« Ich zählte an den Fingern auf: »Die Fleisch- und Milchprodukte in unserem Kühlschrank, Schlägereien, Autounfälle, Larry …« »Wer ist Larry?« »Der Obdachlose, der vor dem Museum of Natural History steht und beim Betteln immer sagt: ›Ist nur für Essen, ehr lich‹.« Sie drehte sich um, und während ich meine Aufzählung fortsetzte, zog ich ihr den Reißverschluss am Kleid hoch. »Dass du Larry nicht kennst, obwohl du ihn bestimmt ständig siehst, dass Buckminster immer nur schläft und frisst und ins Bad trottet und keine raison d’etre hat, der kleine, hässliche Typ ohne Hals, der im IMAX – Kino die Eintrittskarten einsam melt, dass die Sonne eines Tages explodiert, dass ich an jedem Geburtstag mindestens eine Sache geschenkt bekomme, die ich schon habe, arme Leute, die fett werden, weil sie Fast Food essen, weil es billiger ist …« An diesem Punkt gingen mir die Finger aus, obwohl ich gerade erst mit der Liste begonnen hatte, und weil ich wusste, dass Mom erst dann gehen würde, wenn ich alles aufgezählt hatte, sollte die Liste möglichst lang sein. »… Haustiere, dass ich ein Haustier habe, Albträume, Microsoft Windows, alte Menschen, die den ganzen Tag einsam herumsitzen, weil es niemandem einfällt, sie zu besuchen, und weil sie zu schüchtern sind, um jemanden einzuladen, Geheimnisse, Telefone mit Wählscheibe, dass chinesische Kellnerinnen ständig lächeln, selbst wenn es gar nichts Fröhliches oder Lustiges gibt, und außerdem, dass Chinesen mexikanische Restaurants besitzen, aber kein Mexikaner ein chinesisches Restaurant besitzt, Spiegel, Kassettendecks, dass ich in der Schule so unbeliebt bin, Omas Gutscheine, Lagerräume, Leute, die nicht wissen, was das Internet ist, schlechte Handschrift, schöne Lieder, dass es in fünfzig Jahren keine Men schen mehr gibt …« »Wer hat behauptet, dass es in fünfzig Jahren keine Menschen mehr gibt?« Ich fragte sie: »Bist du eine Optimistin oder eine Pessimistin?« Sie schaute auf ihre Uhr und sagte: »Ich bin optimistisch .« »In diesem Fall habe ich schlechte Neuigkeiten für dich, denn sobald es einfach genug ist, und das dauert nicht mehr lange, zerstört die Menschheit sich selbst.« »Warum machen dich schöne Lieder traurig?« »Weil sie nicht wahr sind.« »Nie?« »Nichts auf der Welt ist schön und wahr.« »Du klingst genau wie dein Dad.«
»Was meinst du damit, dass ich genau wie Dad klinge?« »Er hat auch solche Sachen gesagt.« »Welche Sachen?« »Ach, zum Beispiel, dass nichts so-und-so ist. Oder dass alles so-und-so ist.
Oder versteht sich von selbst .« Sie lachte. »Er war immer sehr apodiktisch.« »Was heißt ›apodiktisch‹?« »Dass man keinen Wi derspruch duldet.« »Und was ist falsch daran, keinen Wider spruch zu dulden?« »Manchmal hat dein Dad vor lauter Bäu men den
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