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Extrem laut und unglaublich nah

Extrem laut und unglaublich nah

Titel: Extrem laut und unglaublich nah Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Safran Foer
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Gedanke kam, dass dies einen Menschen zum Selbstmord treiben konnte. Ich hatte Recht. Mein Onkel, dein Urgroßonkel, beging Selbstmord. Es kann natürlich auch sein, dass es nicht an dem Häftling lag.
Nun hatte ich die drei Schriftproben zum Vergleichen. Ich konnte erkennen, dass die Handschrift des Zwangsarbeiters eher der meines Vaters als der des Mörders glich. Aber ich brauchte noch mehr Briefe. So viele wie möglich.
Also ging ich zu meinem Klavierlehrer. Ich hätte ihn immer gern geküsst, aber ich hatte Angst, dass er mich auslachen würde. Ich bat ihn um einen Brief.
Dann bat ich die Schwester meiner Mutter. Sie liebte den Tanz, aber sie hasste das Tanzen.
Ich bat meine Schulkameradin Maria, mir einen Brief zu schreiben. Sie war lebenslustig und witzig. Sie lief gern nackt in ihrem leeren Haus herum, auch, als sie eigentlich schon zu alt dafür war. Nichts war ihr peinlich. Das bewunderte ich sehr, weil mir alles peinlich war, und das machte mich verletzlich. Sie hüpfte gern auf ihrem Bett herum. Sie hüpfte so viele Jahre auf ihrem Bett herum, dass eines Nachmittags, als ich ihr beim Hüpfen zuschaute, die Nähte von Kissen und Deckbett platzten. Das kleine Zimmer war voller Federn. Unser Lachen hielt die Federn in der Luft. Ich dachte über Vögel nach. Konnten sie auch fliegen, wenn niemand in der Nähe war, der lachte?
    Ich ging zu meiner Großmutter, deiner Ururgroßmutter, und bat sie, mir einen Brief zu schreiben. Sie war die Mutter meiner Mutter. Die Mutter der Mutter der Mutter deines Vaters. Ich kannte sie nicht gut. Ich wollte sie auch gar nicht wirklich kennen lernen. Ich dachte wie ein Kind: Die Vergangenheit brauche ich nicht. Mir fiel nie ein, dass die Vergangenheit mich brauchen könnte. Was für einen Brief ?, fragte meine Großmutter.
Ich sagte ihr, sie könne schreiben, was sie wolle.
Du möchtest einen Brief von mir haben?, fragte sie.
Ich bejahte.
Oh, Gott segne dich, sagte sie.
Sie gab mir einen siebenundsechzig Seiten langen Brief. Er enthielt ihre ganze Lebensgeschichte. Sie hatte mein Anliegen zu ihrem gemacht. Hör mir zu.
Ich habe so viel erfahren. In ihrer Jugend hatte sie gesungen. Sie war als Mädchen in Amerika gewesen. Das war mir neu. Sie hatte sich so oft verliebt, dass sie irgendwann argwöhnte, überhaupt keine echte Liebe, sondern etwas viel Gewöhnlicheres zu empfinden. Ich erfuhr, dass sie nie Schwimmen gelernt hatte und gerade deshalb Flüsse und Seen liebte. Sie bat ihren Vater, meinen Urgroßvater und deinen Urururgroßvater, ihr eine Taube zu schenken. Stattdessen bekam sie einen Seidenschal von ihm. Also stellte sie sich vor, der Schal wäre eine Taube. Sie stellte sich sogar vor, dass er fliegen könne und es nur deshalb nicht tue, weil er seine wahre Identität nicht verraten wolle. So sehr liebte sie ihren Vater.
Der Brief wurde zerstört, aber seinen letzten Absatz weiß ich noch auswendig.
Sie schrieb: Am liebsten wäre ich wieder ein Mädchen und könnte mein Leben noch einmal von vorn beginnen. Ich habe viel mehr gelitten, als nötig gewesen wäre. Und meine Freude war nie ganz ungetrübt. Ich hätte ein ganz anderes Leben führen können. Als ich in deinem Alter war, schenkte mir mein Großvater ein Rubinarmband. Es war mir zu groß und rutschte am Arm auf und ab. Es war fast eine Halskette. Später erzählte er mir, dass er es genau so beim Goldschmied bestellt habe. Die Größe sollte ein Maß seiner Liebe sein. Je mehr Rubine, desto größer die Liebe. Aber ich konnte es nicht gut tragen. Ich konnte es überhaupt nicht tragen. Und genau das will ich dir eigentlich sagen. Wenn ich dir jetzt ein Armband schenkte, wäre es doppelt so groß wie dein Handgelenk.
In Liebe,
deine Großmutter
Ich hatte Briefe von allen Menschen, die ich kannte. Ich breitete sie auf dem Fußboden meines Schlafzimmers aus und ordnete sie nach Gemeinsamkeiten. Einhundert Briefe. Ich ordnete sie immer wieder neu nach ihren Bezügen. Ich wollte begreifen.
Sieben Jahre später tauchte ein Freund aus meiner Jugendzeit in dem Augenblick wieder auf, als ich ihn am dringendsten brauchte. Ich war erst zwei Monate in Amerika. Ich wurde von einer Agentur unterstützt, musste aber bald selbst für mich sorgen. Ich wusste nicht, wie ich für mich sorgen sollte. Ich las den ganzen Tag Zeitungen und Zeitschriften. Ich wollte eine richtige Amerikanerin werden. Ich lernte alle Redewendungen. Chew the fat. Blow off some steam. Close but no cigar. Rings a bell. Ich habe mich bestimmt lächerlich

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