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Extrem laut und unglaublich nah

Extrem laut und unglaublich nah

Titel: Extrem laut und unglaublich nah Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Safran Foer
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Hoffnung
und sehr herzlich,
Ihr XXXXXXXX XXXXXXXXX
Ich brachte den Brief sofort in mein Zimmer. Ich schob ihn unter die Matratze. Ich verschwieg ihn meinen Eltern. Wo chenlang lag ich nachts wach und überlegte. Warum hatte man diesen Mann in ein türkisches Arbeitslager gesteckt? Warum war der Brief mit fünfzehn Jahren Verspätung angekommen? Wo war er in diesen fünfzehn Jahren gewesen? Warum hatte niemand auf seine Briefe geantwortet? Wie er schrieb, hatten andere Post bekommen. Warum hatte er den Brief an uns adressiert? Woher kannte er den Namen meiner Straße? Wie konnte er von Dresden wissen? Wo hatte er Deutsch gelernt? Was war aus ihm geworden?
Ich versuchte, anhand des Briefes so viel wie möglich über den Mann herauszufinden. Seine Sprache war schlicht. Brot heißt Brot. Post heißt Post. Voller Hoffnung heißt voller Hoffnung heißt voller Hoffnung. Mir blieb nur die Handschrift.
Also bat ich meinen Vater, deinen Urgroßvater, den besten und warmherzigsten Menschen, den ich kannte, mir einen Brief zu schreiben. Ich sagte ihm, es sei egal, was er schreibe. Schreib einfach, sagte ich. Schreib irgendetwas.
Mein Schatz,
Du hast mich gebeten, dir einen Brief zu schreiben, also schreibe ich dir einen Brief. Ich kenne weder den Grund noch weiß ich, was ich schreiben soll, aber ich schreibe ihn trotzdem, denn ich liebe dich sehr und vertraue darauf, dass du einen guten Grund hast, mich um diesen Brief zu bitten. Ich hoffe, dass du eines Tages die Erfahrung machen wirst, für einen geliebten Menschen etwas zu tun, das du nicht verstehst. Dein Vater
Dieser Brief ist die einzige Erinnerung an meinen Vater, die mir geblieben ist. Ich habe nicht einmal mehr ein Bild.
Als Nächstes ging ich zum Gefängnis. Dort arbeitete mein Onkel als Wärter. Ich konnte die Schriftprobe eines Mörders bekommen. Mein Onkel forderte ihn auf, einen Antrag auf vorzeitige Entlassung zu stellen. Damit spielten wir diesem Mann einen schrecklichen Streich.
An die Gefängnisleitung:
Mein Name ist Kurt Schlüter. Ich bin Häftling Nr. 24922. Ich sitze seit einigen Jahren ein. Ich weiß nicht genau, wie lange. Wir haben keine Kalender. Ich zähle die Tage mit Kreidestrichen an der Wand. Aber wenn es regnet, während ich schlafe, läuft das Wasser an der Wand hinunter. Und wenn ich aufwache, sind die Striche weg. Deshalb weiß ich nicht genau, wie lange ich hier bin.
    Ich habe meinen Bruder ermordet. Ich habe ihm mit einer Schaufel den Schädel eingeschlagen. Mit derselben Schaufel habe ich ihn danach im Hof vergraben. Die Erde war rot. An der Stelle, wo seine Leiche lag, wuchs Unkraut. Nachts kniete ich mich dort manchmal hin und zog es aus, damit niemand etwas merkte.
Ich habe etwas Schreckliches getan. Ich glaube an ein Leben nach dem Tod. Ich weiß, dass man nichts wieder ungeschehen machen kann. Ich wünschte, meine Tage könnten weggewaschen werden wie die Kreidestriche an der Wand.
Ich habe versucht, ein besserer Mensch zu werden. Ich helfe den anderen Gefangenen bei ihren täglichen Pflichten. Ich habe Geduld gelernt.
Vielleicht interessiert es Sie nicht, aber mein Bruder hatte eine Affäre mit meiner Frau. Meine Frau habe ich nicht umgebracht. Ich möchte zu ihr zurückkehren, denn ich habe ihr vergeben.
Wenn Sie mich entlassen, werde ich ein guter Mensch sein, still und unauffällig.
Bitte erwägen Sie meinen Antrag.
Kurt Schlüter, Häftling Nr.24922
Mein Onkel erzählte mir später, dass dieser Häftling mehr als vierzig Jahre im Gefängnis gesessen hatte. Er war als junger Mann verurteilt worden. Als er mir den Brief schrieb, war er alt und gebrochen. Seine Frau hatte längst wieder geheiratet. Sie hatte Kinder und Enkel. Obwohl er nie davon sprach, wusste ich, dass sich mein Onkel mit dem Häftling angefreundet hatte. Auch er hatte seine Frau verloren, und auch er war im Gefängnis. Er sprach nie davon, aber ich hörte an seiner Stimme, dass er Anteil am Schicksal des Häftlings nahm. Sie passten gegenseitig aufeinander auf. Und als ich einige Jahre später fragte, was aus dem Häftling geworden sei, erzählte mir mein Onkel, dass er immer noch einsitze. Er schrieb immer noch Briefe an die Gefängnisleitung. Er machte sich immer noch Vorwürfe und vergab immer noch seiner Frau, ohne zu ahnen, dass seine Worte niemanden erreichten. Mein Onkel ließ sich alle Briefe geben und versprach jedes Mal, sie weiterzuleiten. Aber stattdessen behielt er sie. Die Schubladen seiner Kommode waren voll davon. Ich weiß noch, dass mir der

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