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Extrem laut und unglaublich nah

Extrem laut und unglaublich nah

Titel: Extrem laut und unglaublich nah Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Safran Foer
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angehört. Eigentlich wollte ich nur natürlich klingen. Ich gab die Sache auf.
Ich hatte ihn nicht mehr gesehen, seit ich alles verloren hatte. Ich hatte nie mehr an ihn gedacht. Er war mit Anna, meiner älteren Schwester, befreundet gewesen. Eines Nachmittags ertappte ich sie beim Küssen auf dem Feld hinter de r Laube, die hinter unserem Haus stand. Ich war unglaublic h aufgeregt. Ich hatte das Gefühl, als würde ich selbst jeman den küssen. Ich hatte noch nie geküsst. Ich war noch auf geregter, als wenn ich selbst geküsst hätte. Unser Haus wa r klein. Anna und ich teilten ein Bett. Abends erzählte ic h ihr, was ich gesehen hatte. Sie bat mich, die Sache für mic h zu behalten. Ich versprach es . Sie sagte: Warum sollte ich dir glauben ?
Ich hätte am liebsten erwidert: Weil das, was ich gesehen habe , nicht mehr mir gehört, wenn ich es weitererzähle. Ich sagte : Weil ich deine Schwester bin .
Danke .
Darf ich euch beim Küssen zuschauen ? Ob du uns beim Küssen zuschauen darfst ?
Du könntest mir ja sagen, wo ihr euch küsst, und dann verste cke ich mich dort und schaue euch zu .
Sie lachte so sehr, dass sie einen ganzen Vogelschwarm aufge scheucht hätte. Das war ihre Art einzuwilligen .
Manchmal küssten sie sich auf dem Feld hinter der Laube, di e hinter unserem Haus stand. Manchmal küssten sie sich au f dem Schulhof hinter der Backsteinmauer. Sie küssten sic h immer hinter irgendetwas .
Ich fragte mich, ob sie es ihm erzählt hatte. Ich fragte mich , ob sie spüren konnte, dass ich ihnen zuschaute, ob es die Sach e aufregender für sie machte .
Warum hatte ich sie gebeten, zuschauen zu dürfen? Waru m hatte sie eingewilligt ?
Als ich etwas über den Zwangsarbeiter herausfinden wollte , ging ich auch zu Annas Freund. Ich ging zu jedem .
An Annas süße, kleine Schwester ,
hier ist der Brief, um den du mich gebeten hast. Ich bin fas t zwei Meter groß. Ich habe braune Augen. Angeblich habe ich große Hände. Ich möchte Bildhauer werden, und ich möchte deine Schwester heiraten. Mehr Träume habe ich nicht. Ich könnte noch mehr schreiben, aber das ist alles, was zählt.
Dein Freund
Thomas
Sieben Jahre später betrat ich eine Bäckerei, und da saß er. Zu seinen Füßen lagen Hunde, und neben ihm stand ein Käfig mit einem Vogel. Die sieben Jahre waren keine sieben Jahre. Es waren auch keine siebenhundert Jahre. Ihre Dauer konnte nicht in Jahren gemessen werden, genau wie der Ozean kein Maß für die Entfernung war, die wir zurückgelegt hatten, genau wie man die Toten nicht zählen kann. Ich wollte vor ihm davonlaufen, und ich wollte sofort zu ihm gehen. Bist du Thomas?, fragte ich.
Er schüttelte den Kopf.
Doch, sagte ich. Ich weiß, dass du es bist.
Er schüttelte den Kopf.
Aus Dresden.
Er öffnete seine rechte Hand, auf deren Innenseite NEIN tätowiert war.
Ich kenne dich noch. Ich habe immer zugeschaut, wie du meine Schwester geküsst hast.
Er holte ein kleines Buch hervor und schrieb: Ich spreche nicht. Tut mir Leid.
Das brachte mich zum Weinen. Er wischte mir die Tränen ab. Aber er wollte nicht zugeben, wer er wirklich war. Er gab es nie zu.
Wir verbrachten den ganzen Nachmittag zusammen. Ich wollte ihn die ganze Zeit berühren. So viel empfand ich für diesen Menschen, den ich so lange nicht gesehen hatte. Vor sieben Jahren war er ein Riese gewesen, nun wirkte er klein. Am liebsten hätte ich ihm das Geld geschenkt, das ich von der Agentur bekommen hatte. Meine Geschichte brauchte ich ihm nicht zu erzählen, aber ich musste seine hören. Ich wollte ihn beschützen, ich konnte es, ich war mir sicher, obwohl ich mich selbst nicht beschützen konnte.
Ich fragte: Hast du deinen Traum wahr gemacht und bist Bildhauer geworden?
Er zeigte mir seine rechte Hand, und wir schwiegen.
Wir hatten uns so viel zu sagen, konnten es aber nicht.
Er schrieb: Geht es dir gut?
Ich erwiderte: Ich habe schlechte Augen.
Er schrieb: Aber geht es dir gut?
Ich erwiderte: Das ist eine ziemlich schwierige Frage.
Er schrieb: Das ist eine ziemlich klare Antwort.
Ich fragte: Geht es dir gut?
Er schrieb: Manchmal erwache ich morgens mit einem Gefühl der Dankbarkeit.
Wir unterhielten uns stundenlang, wiederholten aber immer nur das Gleiche.
Unser Kaffee ging zur Neige.
Der Tag ging zur Neige.
Ich fühlte mich noch einsamer, als wenn ich allein gewesen wäre. Wir wollten schon in verschiedene Richtungen davongehen. Wir wussten nicht, was wir sonst tun sollten.
Es ist schon spät, sagte ich.
Er zeigte mir die linke

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