Extrem laut und unglaublich nah
Sie Thomas Schell gekannt?« »Wie bitte?« »Haben Sie Thomas Schell gekannt?« Sie überlegte. Ich fragte mich, warum sie erst überlegen musste. »Nein.« »Sind Sie sicher?« »Ja.« Ihr Ja klang irgendwie unsicher, und deshalb hatte ich den Verdacht, dass sie mir etwas verheimlichte. Aber was? Ich gab ihr den Um schlag und sagte: »Fällt Ihnen dazu etwas ein?« Sie betrachtete ihn eine Weile. »Ich glaube nicht. Müsste es?« »Nur wenn es so wäre«, erwiderte ich. »Es ist aber nicht so«, sagte sie. Ich glaub te ihr nicht.
»Darf ich reinkommen?«, fragte ich. »Ist nicht der beste Zeitpunkt.« »Warum nicht?« »Ich habe gerade zu tun.« »Was denn?« »Geht dich das etwas an?« »Ist das jetzt eine rhetorische Frage?« »Ja.« »Haben Sie einen Job?« »Ja.« »Welchen Job?« »Ich bin Epidemiologin.« »Sie erforschen Krankheiten.« »Ja.« »Faszinierend.« »Hör zu, ich weiß nicht genau, was du willst, aber wenn es mit diesem Umschlag zu tun hat, kann ich dir wirklich nicht helfen …« »Ich habe schrecklichen Durst«, sagte ich und griff mir an die Kehle, das internationale Zeichen für Flüssigkeitsbedarf. »An der Ecke ist ein Deli.« »Aber ich bin Diabetiker und brauche Zuckersüßer.« Lüge Nr. 35. »Du meinst Süßstoff ?« »Wie auch immer.«
Ich hatte ein schlechtes Gefühl beim Lügen, und ich bildete mir nicht ein, ein Ereignis vorhersehen zu können, bevor es eintrat, aber aus irgendeinem Grund wusste ich, dass ich in ihre Wohnung musste. Um meine Lüge wieder gutzumachen, schwor ich mir, bei meiner nächsten Taschengelderhöhung ei nen Teil der Erhöhung für Menschen zu spenden, die wirklich an Diabetes litten. Sie holte tief Luft, als wäre sie unglaublich genervt, aber sie schickte mich auch nicht weg. Von drinnen rief ihr ein Mann etwas zu. »Orangensaft?«, fragte sie. »Haben Sie vielleicht einen Kaffee?« »Komm mit«, sagte sie und ging in die Wohnung. »Möchtest du milchfreien Kaffeeweißer?«
Als ich ihr folgte, sah ich mich um, und alles war sauber und ordentlich. An den Wänden hingen schöne Fotos, und eines zeigte die Scheide einer Afro-Amerikanerin, und das stärkte mein Selbstbewusstsein.»Wo sind die Sofakissen?« »Es gibt kei ne.« »Was ist das hier?« »Meinst du das Gemälde?« »Ihre Woh nung riecht gut.« Im Nebenzimmer rief wieder der Mann, diesmal sehr laut und fast verzweifelt, aber sie reagierte nicht darauf, als hörte sie nichts oder als wäre es ihr egal.
Ich fasste viele Dinge in ihrer Küche an, weil mir das aus ir gendeinem Grund ein gutes Gefühl gab. Ich fuhr mit dem Finger oben über ihre Mikrowelle, und er wurde grau. » C’est sale «, sagte ich, zeigte ihr den Finger und musste lachen. Sie wurde auf einmal sehr ernst.»Wie peinlich«, sagte sie.»Sie soll ten mein Labor sehen«, sagte ich.»Ich weiß wirklich nicht, wie das kommt«, sagte sie. Ich sagte: »Sachen werden eben schmutzig.« »Aber ich habe es gern sauber. Jede Woche kommt die Putzfrau. Ich habe ihr hunderttausend Mal gesagt, dass sie überall sauber machen soll. Ich habe sie auch auf die Mikrowelle hingewiesen.« Ich fragte sie, warum sie sich über solche Klei nigkeiten aufrege. Sie sagte: »Ich finde, das sind keine Kleinigkeiten«, und ich dachte daran, was es bedeutete, ein Sandkorn um einen Millimeter zu verschieben. Ich holte ein feuchtes Haushaltstuch aus meinem Marschgepäck und wischte über die Mikrowelle.
»Wenn Sie Epidemiologin sind«, sagte ich, »wissen Sie be stimmt, dass Hausstaub zu siebzig Prozent aus menschlichen Hautpartikeln besteht?« »Nein«, sagte sie, »das weiß ich nicht.« »Ich bin Amateur-Epidemiologe.« »Die sind eher selten.« »Ja. Und einmal habe ich ein ziemlich faszinierendes Experiment gemacht. Ich habe Feliz gebeten, den Staub aus unserer Woh nung ein Jahr lang in einen bestimmten Müllsack zu tun. Dann habe ich ihn gewogen. Er wog 112 Pfund. Dann habe ich ausgerechnet, dass siebzig Prozent von 112 Pfund 78,4 Pfund sind. Ich wiege 76 Pfund und, wenn ich klitschnass bin, 78 Pfund. Das beweist zwar nicht wirklich etwas, aber ich fin de es krass. Wo soll ich das hintun?« »Hier«, sagte sie und nahm mir das Haushaltstuch ab. Ich fragte sie: »Warum sind Sie trau rig?« »Bitte?« »Sie sind traurig. Warum?«
Die Kaffeemaschine blubberte. Sie öffnete einen Schrank und holte einen Becher heraus. »Nimmst du Zucker?« Ich bejahte, denn Dad hat auch immer Zucker genommen. Als sie sich gesetzt hatte, stand sie sofort wieder auf und holte
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