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Extrem laut und unglaublich nah

Extrem laut und unglaublich nah

Titel: Extrem laut und unglaublich nah Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Safran Foer
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»Versteht sich von selbst.« »Wiedersehen«, sagte die Stimme. »Aber ich will doch nur wissen, was mit dem Schlüssel ist.« »Wiedersehen.« »Aber …« »Wiedersehen.« Enttäuschung Nr. 2.
    Ich setzte mich wieder auf den Boden und begann, im Eingang eines Mietshauses in Corona zu heulen. Ich hätte am liebsten alle Klingelknöpfe gedrückt und sämtlichen Bewoh nern dieses blöden Hauses meine Flüche ins Ohr gebrüllt. Ich hätte mir am liebsten einen blauen Fleck verpasst. Ich stand auf und drückte noch einmal auf 9e. »Was. Willst. Du?« Ich sagte: »Thomas Schell war mein Dad.« »Und?« » War . Nicht ist . Er ist tot.« Er schwieg, aber ich wusste, dass er die Sprechtaste ge drückt hielt, weil in seiner Wohnung irgendetwas piepte und weil Jalousien im Wind klapperten, den ich auch hier unten spürte. Er fragte: »Wie alt bist du?« Sieben, behauptete ich, weil ich wollte, dass er mir wenigstens aus Mitleid half. Lüge Nr. 34. »Mein Dad ist tot«, sagte ich zu ihm. »Tot?« »Er ist nicht mehr am Leben.« Er schwieg. Ich hörte wieder das Piepen. Wir standen uns von Angesicht zu Angesicht gegenüber, auch wenn neun Stockwerke zwischen uns lagen. Schließlich sagte er: »Er muss ziemlich jung gestorben sein.« »Ja.« »Wie alt ist er gewesen?« »Vierzig.« »Zu jung.« »Das stimmt.« »Darf ich fragen, wie er gestorben ist?« Eigentlich wollte ich nicht darüber reden, aber dann fielen mir die Versprechen ein, die ich mir für die Suche gegeben hatte, und ich erzählte ihm alles. Ich hörte noch mehr Piepen und fragte mich, ob sein Finger nicht langsam müde wurde. Er sagte: »Wenn du hochkommst, sehe ich mir den Schlüssel an.« »Ich kann aber nicht hochkommen.« »Warum nicht?« »Weil Sie im neunten Stock wohnen, und das ist mir zu hoch.« »Wieso?« »Weil es so hoch oben nicht sicher ist.« »Aber hier oben ist es absolut sicher.« »Bis etwas passiert.« »Dir passiert schon nichts.« »Es ist eine meiner Regeln.« »Ich würde ja gern hinunterkommen«, sagte er, »aber ich kann nicht.« »Warum nicht?« »Ich bin sehr krank.« »Aber mein Dad ist tot.« »Ich hänge an allen möglichen Geräten. Darum habe ich auch so lange bis zur Sprechanlage gebraucht.« Wenn ich eine zweite Chance bekommen würde, würde ich die Sache anders machen. Aber man bekommt keine zweite Chance. Die Stimme sagte: »Hallo? Hallo? Bitte.« Ich schob meine Karte unter der Tür des Mietshauses durch und verschwand, so schnell ich konnte.
    Abby Black lebte in der Nr.1 eines Hauses in Bedford Street. Ich brauchte zwei Stunden und dreiundzwanzig Minuten für den Weg, und vom vielen Tamburinschütteln wurde meine Hand lahm. Über der Tür befand sich eine kleine Plakette, die darauf hinwies, dass die Dichterin Edna Saint Vincent Millay einst in diesem Haus gewohnt habe und dass es das schmalste Haus in ganz New York sei. Ich fragte mich, ob Edna Saint Vincent Millay wirklich eine Frau gewesen war, denn ihr Name klang ziemlich krass. Ich probierte den Schlüssel aus, aber er passte nur halb ins Schloss. Ich klopfte. Es wurde nicht geöffnet, obwohl ich drinnen jemanden reden hörte, und da mir der Gedanke kam, dass mit Nr. 1 vielleicht der erste Stock gemeint war, klopfte ich noch einmal. Ich war felsenfest ent schlossen, den Leuten so richtig auf die Nerven zu gehen, falls nötig.
    Eine Frau machte die Tür auf und sagte: »Was kann ich für dich tun?« Sie war unglaublich schön und hatte wie Mom ein Gesicht, das selbst dann zu lächeln schien, wenn sie gar nicht lächelte, und außerdem hatte sie große Brüste. Besonders gut gefiel mir, wie ihre Ohrringe ihren Hals streiften. Ich wünsch te mir plötzlich, dass ich ihr irgendeine Erfindung mitgebracht

hätte, egal wie klein, damit sie einen Grund hatte, mich zu mögen. Zum Beispiel eine phosphoreszierende Brosche.
    »Hi.« »Hallo.« »Sind Sie Abby Black?« »Ja.« »Ich bin Oskar Schell.« »Hallo.« »Hi.« Ich sagte zu ihr: »Das hören Sie be stimmt ständig von allen möglichen Leuten, aber wenn Sie im Lexikon den Begriff ›unglaublich schön‹ nachschlagen wür den, wäre da ein Bild von Ihnen.« Sie musste ein bisschen la chen und sagte: »Das hat mir noch nie jemand gesagt.« »Ich wette doch.« Sie musste ein bisschen mehr lachen. »Nein, das hat mir noch nie jemand gesagt.« »Dann haben Sie mit den fal schen Leuten zu tun.« »Könnte stimmen.« »Weil Sie nämlich unglaublich schön sind.«
    Sie öffnete die Tür ein bisschen mehr. Ich fragte: »Haben

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