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Extrem laut und unglaublich nah

Extrem laut und unglaublich nah

Titel: Extrem laut und unglaublich nah Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Safran Foer
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sie, warum nicht. Sie sagte: »Weil ich achtund vierzig bin, und weil du zwölf bist.« »Ja, und?« »Und weil ich verheiratet bin.« »Ja, und?« »Und weil ich dich gar nicht ken ne.« »Haben Sie nicht das Gefühl, mich zu kennen?« Sie schwieg. Ich sagte zu ihr: »Der Mensch ist das einzige Tier, das errötet, lacht, Religionen hat, Kriege führt und sich auf die Lippen küsst. In gewisser Weise sind wir also umso mehr Mensch, je öfter wir uns auf die Lippen küssen.« »Und je mehr Kriege wir führen?« Nun schwieg ich. Sie sagte: »Du bist wirklich ein süßer Junge.« Ich erwiderte: »Junger Mann.« »Aber ich glaube, es wäre keine gute Idee.« »Muss es denn eine gute Idee sein?« »Ich denke schon.« »Darf ich wenigstens ein Foto von Ihnen machen?« Sie sagte: »Sehr gern.« Aber als ich Opas Fotoapparat einstellte, schlug sie sich aus irgendeinem Grund eine Hand vors Gesicht. Da ich sie nicht zwingen woll te, mir ihre Geste zu erklären, machte ich das Foto aus einer anderen Perspektive, die sowieso besser passte. »Hier ist meine Karte«, sagte ich zu ihr, als ich den Deckel wieder auf die Lin se gesetzt hatte, »für den Fall, dass Ihnen doch noch etwas zu dem Schlüssel einfällt oder dass Sie einfach reden möchten.«
    OSKAR SCHELL
    ERFINDER, SCHMUCKDESIGNER, GOLDSCHMIED, AMATEUR-ENTOMOLOGE, FRANKOPHILER, VEGANER, ORIGAMIST, PAZIFIST, PERKUSSIONIST, AMATEUR-ASTRONOM, COMPUTER-SPEZIALIST, AMATEUR-ARCHÄOLOGE, SAMMLER VON:
    seltenen Münzen, Schmetterlingen, die eines natürlichen Todes gestorben sind, Mini-Kakteen, Beatles-Andenken, Halbedelsteinen und anderen Dingen.
    E-MAIL: [email protected]
TELEFON: PRIVAT/ MOBIL:PRIVAT
    FAX: ICH HABE NOCH KEIN FAX
    Als ich nach Hause kam, ging ich nach gegenüber zu Oma. Im Grunde tat ich das jeden Nachmittag, weil Mom samstags und manchmal sogar sonntags in der Firma arbeitete und immer Angst um mich hatte, wenn ich allein war. Als ich mich dem Haus näherte, in dem Oma wohnte, sah ich auf, aber sie saß nicht wie sonst am Fenster und wartete auf mich. Ich fragte Farley, ob sie zu Hause sei, und als er sagte, er glaube schon, stieg ich die zweiundsiebzig Stufen hinauf.
    Oben klingelte ich. Da Oma nicht an die Tür kam, öffnete ich selbst, denn sie lässt immer auf, obwohl ich das ein bisschen leichtsinnig finde, weil sich Menschen, denen man vertraut, manchmal als nicht so vertrauenswürdig erweisen wie erhofft. Als ich eintrat, war sie gerade auf dem Weg zur Tür. Sie sah aus, als hätte sie geweint, obwohl das nicht sein konnte, denn sie hatte mir einmal erzählt, dass sie ihren Vorrat an Tränen verbraucht habe, als Opa gegangen war. Ich hatte sie darüber aufgeklärt, dass bei jedem Weinen neue Tränen produziert wer den. Sie hatte erwidert: »Wie auch immer.« Manchmal fragte ich mich, ob sie heimlich weinte.
    »Oskar!«, sagte sie und umarmte mich wie üblich so, dass ich vom Boden abhob. »Ich bin okay«, sagte ich. »Oskar!«, wieder holte sie und hob mich noch einmal hoch. »Ich bin okay«, wiederholte ich, und dann fragte ich, wo sie gewesen sei. »Ich habe mich im Gästezimmer mit dem Mieter unterhalten.«
    Als ich ein Baby war, passte Oma immer tagsüber auf mich auf. Von Dad wusste ich, dass sie mich damals im Waschbecken badete und meine Finger- und Zehennägel mit den Zähnen abbiss, weil ihr die Schere nicht geheuer war. Als ich alt genug war, um in der Wanne sitzen zu können und zu wissen, dass ich einen Penis und ein Skrotum und so weiter hatte, bat ich sie, mich beim Baden allein zu lassen. »Warum denn?« »Wegen meiner Intimsphäre.« »Wegen deiner Intimsphäre? Bei mir?« Ich wollte sie nicht verletzen, denn noch eine meiner raisons d’etre ist, sie nicht zu verletzen. »Einfach nur wegen meiner In timsphäre.« Sie legte sich die Hände auf den Bauch und sagte: »Bei mir ?« Sie erklärte sich einverstanden, draußen zu warten, aber nur unter der Bedingung, dass ich ein Wollknäuel hielt, dessen Faden unter der Badezimmertür durchführte und mit dem Schal verbunden war, den sie strickte. Alle paar Sekunden zog sie am Faden, und ich musste zur Antwort ebenfalls zie hen – und ribbelte auf diese Weise auf, was sie gerade gestrickt hatte –, damit sie wusste, dass ich okay war.
    Als ich vier war, spielte sie einmal Monster und jagte mich quer durch die Wohnung, und ich schlug mir die Lippe an der Kante des Kaffeetisches auf und musste ins Krankenhaus. Oma glaubt zwar an Gott, aber an Taxis glaubt sie nicht, und deshalb blutete

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