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Extrem laut und unglaublich nah

Extrem laut und unglaublich nah

Titel: Extrem laut und unglaublich nah Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Safran Foer
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auch kein guter Grund ein. Weinte sie über die Elefanten? Oder über etwas anderes, das ich erzählt hatte? Oder über den verzweifelten Mann im Nebenzimmer? Oder über etwas, von dem ich nichts wusste? Ich sagte zu ihr: »Ich verpasse mir oft blaue Flecke.« Sie sagte: »Das tut mir Leid.« Ich erzählte ihr: »Ich habe der Forscherin, die die Elefantenlaute aufzeichnet, einen Brief geschrieben. Ich habe sie gefragt, ob ich nicht ihr Assistent werden könnte.
Ich habe ihr geschrieben, ich könnte ja dafür sorgen, dass sie immer genug unbespielte Kassetten für die Aufnahmen hat, und dass ich Wasser abkochen könnte, damit man es gefahrlos trinken kann, oder dass ich einfach nur ihr Gepäck tragen könnte. Ihr Assistent schrieb mir als Antwort, dass sie schon einen Assistenten habe, versteht sich von selbst, dass sich aber vielleicht bei einem zukünftigen Projekt eine Zusammenarbeit ergeben könnte.« »Das ist schön. Da hast du etwas, worauf du dich freuen kannst.« »Ja.« Irgendjemand trat in die Küchentür, vermutlich der Mann, der aus dem Nebenzimmer gerufen hatte. Er steckte nur ganz kurz seinen Kopf in die Küche, sagte etwas, das ich nicht verstand, und ging wieder. Abby tat so, als hätte sie nichts bemerkt, aber ich konnte nicht so einfach darüber hinweggehen. »Wer war das?« »Mein Mann.« »Braucht er irgendetwas?« »Ist mir egal.« »Aber er ist Ihr Mann, und ich glaube, er braucht irgendetwas.« Sie musste wieder weinen. Ich ging zu ihr und legte ihr eine Hand auf die Schulter, wie Dad es bei mir immer getan hatte. Ich fragte sie, was in ihr vorgehe, denn das hat Dad auch immer gefragt. »Du findest das bestimmt alles ziemlich merkwürdig«, sagte sie.»Ich finde, dass viele Dinge ziemlich merkwürdig sind.« Sie fragte: »Wie alt bist du?« Ich sagte ihr, ich sei zwölf – Lüge Nr. 59 –, weil ich so alt sein wollte, dass sie sich in mich verlieben konn te. »Wieso klingelt ein Zwölfjähriger an fremden Türen?« »Ich bin auf der Suche nach einem Schloss. Und wie alt sind Sie?« »Achtundvierzig.« »Hammerhart! Sie wirken viel jünger.« Sie musste mitten im Weinen lachen und sagte: »Danke.« »Wieso lädt eine Achtundvierzigjährige einen Fremden in ihre Küche ein?« »Weiß ich nicht.« »Ich gehe Ihnen auf die Nerven«, sagte ich. »Du gehst mir nicht auf die Nerven«, sagte sie, aber es ist immer schwer zu glauben, wenn die Leute das behaupten.
    Ich fragte: »Haben Sie Thomas Schell wirklich nicht ge kannt?« Sie sagte: »Ich kenne keinen Thomas Schell«, aber aus irgendeinem Grund glaubte ich ihr immer noch nicht. »Viel leicht kennen Sie jemand anderen, der mit Vornamen Thomas heißt? Oder jemand anderen mit dem Nachnamen Schell?« »Nein.« Ich glaubte immer noch, dass sie mir etwas verschwieg. Ich zeigte ihr noch einmal den kleinen Umschlag. »Aber das ist doch Ihr Nachname, oder?« Sie betrachtete die Handschrift, und ich merkte, dass ihr daran etwas bekannt vorkam. Jeden falls bildete ich mir das ein. Aber dann sagte sie: »Tut mir Leid. Ich glaube, ich kann dir nicht weiterhelfen.« »Und was ist mit dem Schlüssel?« »Welcher Schlüssel?« Da fiel mir ein, dass ich ihr den Schlüssel noch gar nicht gezeigt hatte. Wegen all dem Gerede – über Staub, über Elefanten – war ich völlig über den eigentlichen Grund meines Besuchs hinweggekommen.
    Ich zog den Schlüssel unter meinem Hemd hervor und legte ihn in ihre Hand. Da ich die Schnur noch um den Hals hatte, musste sie sich vorbeugen, um den Schlüssel betrachten zu kön nen, und ihr Gesicht war ganz dicht an meinem. So verharrten wir eine Weile. Es war, als wäre die Zeit stehen geblieben. Ich dachte an den stürzenden Körper.
    »Tut mir Leid«, sagte sie. »Was tut Ihnen Leid?« »Tut mir Leid, aber ich kenne diesen Schlüssel nicht.« Enttäuschung Nr. 3. »Das tut mir auch Leid.«

Unsere Gesichter waren sich unglaublich nah.
    Ich sagte zu ihr: »In diesem Herbst führen wir Hamlet auf, falls Sie das interessiert. Wir haben einen echten Springbrun nen. Wenn Sie kommen möchten – die Premiere ist in zwölf Wochen. Sie wird bestimmt super.« Sie sagte: »Ich will’s versu chen«, und ich konnte den Atem ihrer Worte auf meiner Wan ge spüren. Ich fragte sie: »Könnten wir uns nicht ein bisschen küssen?«
    »Bitte?«, sagte sie, aber ihren Kopf zog sie trotzdem nicht zurück. »Ich mag Sie, und ich glaube, Sie mögen mich auch.« Sie sagte: »Ich glaube, das wäre keine gute Idee.« Enttäuschung Nr. 4. Ich fragte

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