Extrem laut und unglaublich nah
da?«, antwortete ich: »Raus. Später.« Wenn einer der Blacks etwas von mir wissen wollte, würde ich hingegen alles erzählen. Meine anderen Regeln lauteten, dass ich nicht wieder sexistisch oder rassistisch oder gerontophob oder homophob oder zu mitleidig und diskriminierend mit geistig oder körperlich behinderten Menschen wäre und dass ich nur lügen würde, wenn ich unbedingt musste, und ich musste oft lügen. Ich stellte mir ein spezielles Marschgepäck zusammen, das ein paar absolut un verzichtbare Dinge enthielt, etwa ein Magnum-Blitzlicht, ei nen Labello, ein paar Fig Newtons, Plastiktüten für Müll und wichtige Beweisstücke, mein Handy, den Text von Hamlet (da mit ich auf den Fahrten von einem Black zum anderen die Regieanweisungen auswendig lernen konnte, denn Text hatte ich nicht), eine topographische Karte von New York, Jod tabletten für den Fall der Explosion einer schmutzigen Bombe, meine weißen Handschuhe, versteht sich von selbst, ein paar Tüten Fruchtsaft, ein Vergrößerungsglas, meinen Petit Larousse und ein paar andere nützliche Dinge. Es konnte losgehen.
Als ich rausging, sagte Stan: »Was für ein Tag!« »Ja.« Er fragte: »Und? Was steht heute auf dem Programm?« Ich zeigte ihm den Schlüssel. Er sagte: »Du ziehst in ein Schloss?« Ich sagte: »Sehr witzig. Vielleicht nach der nächsten Taschengelderhöhung.« Er schüttelte den Kopf und sagte: »Ich konnte es mir nicht ver kneifen. Also – was steht auf dem Programm?« »Queens und Greenwich Village.« »Du meinst Gren – ich Village?« Das war die erste Enttäuschung auf meiner Expedition, denn ich hatte ge glaubt, man würde den Namen ausprechen, wie man ihn schrieb, und das wäre ein toller Hinweis gewesen. »Wie auch immer.«
Ich brauchte drei Stunden und einundvierzig Minuten für den Fußmarsch zu Aaron Black, denn ich habe immer noch Angst vor öffentlichen Verkehrsmitteln, obwohl ich auch Angst davor habe, über Brücken zu gehen. Dad meinte immer, dass man seine Ängste manchmal im Zaum halten müsse, und das war eine solche Gelegenheit. Ich ging durch die Amsterdam Avenue und die Columbus Avenue und den Central Park und die Fifth Avenue und die Madison Avenue und die Park Avenue und die Lexington Avenue und die Third Avenue und die Second Avenue. Als ich mitten auf der Fifty-ninth Street Bridge stand, kam mir der Gedanke, dass Manhattan einen Millimeter hinter mir und Queens einen Millimeter vor mir lag. Wie heißen die Teile von New York – genau in der Mitte des Midtown Tunnel, genau in der Mitte der Brooklyn Bridge, genau in der Mitte der Staten-Island-Fähre, wenn sie sich genau in der Mitte zwischen Manhattan und Staten Island befindet –, die in keinem der Bezirke liegen?
Ich tat einen Schritt, und ich war zum ersten Mal in Queens.
Ich ging durch Long Island City, Woodside, Elmhurst und Jackson Heights. Ich schüttelte die ganze Zeit mein Tamburin, weil ich auf diese Weise nicht vergaß, dass ich immer noch ich selbst war, obwohl ich durch einen fremden Stadtteil ging. Als ich das Gebäude schließlich erreichte, hielt ich vergeblich Aus schau nach dem Türsteher. Zuerst glaubte ich, er wäre einen Kaffee holen, aber nach einiger Zeit war er immer noch nicht da. Ich schaute durch die Tür und stellte fest, dass es gar keinen Tisch für ihn gab. Ich dachte: Krass .
Ich probierte meinen Schlüssel im Schloss aus, bekam aber nur die Spitze hinein. Ich sah, dass jede Wohnung einen Klin gelknopf hatte, also drückte ich den für die Wohnung von A. Black, die Nummer 9e. Keine Antwort. Ich drückte noch ein mal. Nichts. Ich hielt den Knopf fünfzehn Sekunden lang ge drückt. Immer noch nichts. Ich ließ mich zu Boden sinken und fragte mich, ob es zu waschlappig wäre, vor einem Miets haus in Corona in Tränen auszubrechen.
»Ja, was denn, ja, was denn«, sagte eine Stimme aus dem Lautsprecher. »Immer mit der Ruhe.« Ich sprang auf. »Hallo«, sagte ich, »ich heiße Oskar Schell.« »Was willst du?« Er klang ziemlich sauer, obwohl ich nichts Böses getan hatte. »Haben Sie Thomas Schell gekannt?« »Nein.« »Ganz bestimmt nicht?« »Nein.« »Da gibt es einen Schlüssel. Wissen Sie etwas darüber?« »Was willst du denn überhaupt?« »Ich habe doch nichts Böses getan.« »Was willst du?« »Ich habe einen Schlüssel gefunden«,
sagte ich, »und er hat in einem Umschlag gesteckt, auf dem Ihr Name stand.« »Aaron Black?« »Nein, nur Black.« »Der Name ist häufig.« »Ich weiß.« »Und eine Farbe.«
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