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Extrem laut und unglaublich nah

Extrem laut und unglaublich nah

Titel: Extrem laut und unglaublich nah Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Safran Foer
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ich mir mein Hemd im Bus voll. Dad erzählte mir, dass sie unglaublich schwere Bleifüße gehabt habe, obwohl meine Lippe mit ein paar Stichen genäht war, und dass sie immer wieder herüberkam, um es ihm zu sagen. »Es war alles meine Schuld. Ihr dürft ihn nie wieder bei mir lassen.« Als ich sie danach zum ersten Mal wieder sah, sagte sie zu mir: »Ich habe so getan, als wäre ich ein Monster, und ich bin wirklich zu einem Monster geworden, weißt du?«
    In der Woche nach Dads Tod blieb Oma bei uns in der Woh nung, weil Mom in Manhattan unterwegs war, um Zettel auf zuhängen. Wir spielten gugolplexviele Male Daumenhakeln, und ich gewann immer, selbst wenn ich eigentlich verlieren wollte. Wir sahen uns Dokumentarfilme an, die für mein Alter freigegeben waren, und wir backten veganische Topfkuchen und gingen oft im Park spazieren. Eines Tages lief ich vor und versteckte mich. Es gefiel mir, von jemandem gesucht zu wer den und immer wieder meinen Namen zu hören. »Oskar! Os kar!« Vielleicht gefiel es mir eigentlich auch gar nicht, aber ich brauchte es in dem Moment.
    Ich folgte ihr mit sicherem Abstand, während sie immer panischer wurde. »Oskar!« Sie weinte und suchte überall, aber ich zeigte mich nicht, denn ich war mir sicher, dass am Ende, wenn wir gemeinsam über die Sache lachten, alles wieder in Butter wäre. Ich sah sie nach Hause gehen, und ich wusste, dass sie sich dort wie immer auf die Stufen setzen und auf Mom warten würde. Sie würde ihr erzählen müssen, dass ich ver schwunden war und dass ich, weil sie nicht gut auf mich auf gepasst hatte, für immer verschollen bliebe und die Familie der Schells damit ausgestorben sei. Ich rannte voraus durch die 82. und die 83. Straße, und als Oma unser Haus erreichte, sprang ich hinter der Tür hervor. »Aber ich habe doch gar keine Piz za bestellt!«, sagte ich und musste so schrecklich lachen, dass ich fast geplatzt wäre.
    Sie begann einen Satz, und dann verstummte sie. Stan nahm sie beim Arm und sagte: »Setzen Sie sich doch, Oma.« Mit ei ner Stimme, die mir total fremd war, erwiderte sie: »Fassen Sie mich nicht an.« Dann machte sie kehrt und ging über die Straße zu ihrer Wohnung. Abends blickte ich durch mein Fernglas zu ihrem Fenster, und dort hing ein Zettel mit den Worten: »Verlass mich nicht.«
    Seit diesem Tag will sie immer, dass wir bei Spaziergängen ein Spiel wie Marco Polo spielen, bei dem sie meinen Namen ruft, und dann muss ich antworten, damit sie weiß, dass ich okay bin.
    »Oskar.«
    »Ich bin okay.«
    »Oskar.«
    »Ich bin okay.«
    Ich weiß nie genau, wann wir das Spiel spielen und wann sie meinen Namen einfach nur so sagt, also sage ich immer, dass ich okay bin.
    Ein paar Monate nach Dads Tod fuhren Mom und ich zum Lagerhaus in New Jersey, wo er das Zeug aufbewahrte, das er nicht mehr brauchte, eines Tages aber vielleicht doch noch hätte brauchen können, vielleicht, wenn er sich zur Ruhe ge setzt hatte. Wir mieteten uns ein Auto, und obwohl es nicht weit war, brauchten wir über zwei Stunden für die Fahrt, weil Mom immer wieder anhielt, um sich irgendwo das Gesicht zu waschen. Das Lagerhaus war ziemlich chaotisch, und dunkel war es auch, und deshalb dauerte es lange, bis wir Dads kleinen Abstellraum endlich gefunden hatten. Wir stritten uns um sei nen Rasierer, weil Mom ihn auf den Wegwerf-Haufen tun wollte, ich dagegen auf den Aufheb-Haufen. Sie sagte: »Für was aufheben?« Ich sagte: »Ist doch egal, für was.« Sie sagte: »Ist mir sowieso ein Rätsel, warum er einen Rasierer für drei Dol lar aufgehoben hat.« Ich sagte: »Ist doch egal, warum.« Sie sag te: »Wir können nicht alles aufheben.« Ich sagte: »Dann wäre

es also auch okay, wenn ich nach deinem Tod alle deine Sa chen wegwerfen und dich vergessen würde?« Ich bereute mei ne Worte schon, als ich sie aussprach. Mom entschuldigte sich, und das fand ich krass.
    Wir fanden unter anderem mein altes Baby-Funk-Über wachungsset. Mom und Dad hatten immer ein Walkie-Talkie in die Wiege gelegt, damit sie hörten, wenn ich schrie, und manchmal kam Dad nicht zu mir, sondern sprach einfach ins Walkie-Talkie, damit ich wieder einschlief. Ich fragte Mom, warum er es aufgehoben habe. Sie sagte: »Vermutlich für später, wenn du Kinder hast.« » Was zum? « »So war dein Dad eben.« Allmählich kapierte ich, dass viele Sachen, die er aufbewahrt hatte – kistenweise Lego, sämtliche Was ist was? – Bücher, selbst die leeren Fotoalben –, vermutlich für später waren,

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