Extrem laut und unglaublich nah
Oskar.« »Ich bin okay.«
Wir verbrachten unglaublich viel Zeit miteinander. So viel Zeit habe ich vermutlich mit niemand anderem verbracht, je denfalls nicht seit Dads Tod, Buckminster nicht mit eingerechnet. Trotzdem kannte ich andere Menschen besser als sie. Ich wusste zum Beispiel nicht, wie ihre Kindheit gewesen oder wie sie Opa begegnet war, wie ihre Ehe ausgesehen hatte oder warum er gegangen war. Wenn ich ihre Lebensgeschichte schreiben müsste, könnte ich nur sagen, dass ihr Mann mit Tieren sprechen konnte und dass ich nie jemanden so lieben sollte, wie sie mich liebte. Meine Frage lautet also: Wenn wir nicht versuchten, uns näher kennen zu lernen, was taten wir dann eigentlich die ganze Zeit?
»Hast du heute irgendwas Besonderes gemacht?«, fragte sie mich an dem Nachmittag, als ich mit der Suche nach dem Schloss begonnen hatte. Wenn ich mir überlege, was alles passiert ist, von Dads Beerdigung bis zum Ausgraben seines Sargs, frage ich mich immer, warum ich ihr damals nicht die Wahrheit gesagt habe. Ich hätte noch kehrtmachen können, denn ich war noch nicht an dem Punkt, an dem es kein Zurück mehr gibt. Sie hätte mich vielleicht nicht verstanden, aber ich hätte es trotzdem sagen können. »Ja«, sagte ich. »Ich habe die Kratz-und-Riech-Ohrringe für den Kunsthandwerksbasar fertig gestellt. Dann habe ich noch den Schwalbenschwanz aufgespießt, den Stan tot auf der Treppe gefunden hat. Und ich habe an ein paar Briefen geschrieben, mit denen ich in Verzug bin.« »An wen schreibst du?«, fragte sie, und ich war immer noch nicht am Punkt, an dem es kein Zurück mehr gab. »An Kofi Annan, Siegfried, Roy, Jacques Chirac, E.O.Wilson, Weird Al Yankovic, Bill Gates, Wladimir Putin und noch ein paar andere.« Sie fragte: »Warum schreibst du nicht an jemanden, den du kennst?« Ich sagte: »Ich kenne doch niemanden«, und verstummte, weil ich etwas hörte. Oder etwas zu hören glaubte. Ein Geräusch, als ginge jemand durch die Wohnung. »Was ist das?«, fragte ich. »Meine Ohren sind nicht besonders große Klasse«, sagte sie. »Aber irgendjemand ist in der Wohnung. Vielleicht der Mieter?« »Nein«, sagte sie, »er ist vorhin ins Museum gegangen.« »Welches Museum?« »Ich weiß nicht, in welches. Er hat gesagt, er sei erst am späten Abend wieder zurück.« »Aber ich kann jemanden hören.« »Nein, kannst du nicht«, sagte sie. Ich sagte: »Doch, kann ich. Ich bin mir fast hundertprozentig sicher.« Sie sagte: »Vielleicht bildest du es dir nur ein?« Da war ich an dem Punkt, an dem es kein Zurück mehr gibt.
Vielen Dank für Ihren Brief. Da ich sehr
viel Post bekomme, kann ich nicht alles
persönlich beantworten. Trotzdem lese ich
sämtliche Briefe und bewahre sie in der
Hoffnung auf, sie eines Tages gebührend
beantworten zu können.
Bis dahin mit freundlichen Grüßen,
Ihr Stephen Hawking
An diesem Abend blieb ich lange auf und entwarf Schmuck. Ich entwarf eine Fußspange für Querfeldein, die beim Gehen eine Spur aus leuchtend gelber Farbe hinterlässt, sodass man wieder nach Hause findet, wenn man sich verirrt hat. Außer dem entwarf ich ein Paar Eheringe, die den Puls messen und als Signal an den jeweils anderen Ring senden, der bei jedem Herzschlag rot aufleuchtet. Dann hatte ich noch eine Idee für einen ziemlich tollen Armreif: Man rollt seinen Lieblingsge dichtband auf, wickelt ein Gummiband darum, und nach ei nem Jahr nimmt man das Band ab und trägt das Buch als Arm reif.
Ich weiß auch nicht, warum, aber beim Arbeiten musste ich ständig an den Tag denken, als Mom und ich nach New Jersey zu dem Lagerhaus gefahren waren. Ich kehrte in Gedanken immer wieder dorthin zurück, genau wie die Lachse, über die ich Bescheid weiß. Ich glaube, Mom hielt mindestens zehn Mal an, um sich das Gesicht zu waschen. Das Lagerhaus war so still und so dunkel, und wir waren die einzigen Menschen. Welche Getränke gab es im Automaten? Welche Schriftart hatten die Schilder? Ich ging im Geist die Kisten durch. Ich holte einen schönen, alten Filmprojektor heraus. Was hatte Dad zuletzt gefilmt? War ich mit auf dem Film gewesen? Ich erinnerte mich an den Berg Zahnbürsten, wie man sie beim Zahnarzt bekommt, und an drei Baseball-Bälle, die Dad beim Spiel gefangen und mit dem jeweiligen Datum versehen hatte. Welche Daten waren es gewesen? Im Geist öffnete ich eine Kiste mit alten Atlanten (in denen Deutschland geteilt und Jugoslawien eins war) und Souvenirs von Geschäftsreisen, zum Beispiel russische
Weitere Kostenlose Bücher