Extrem laut und unglaublich nah
Sechsten Bezirk gegeben hat. Objektiv gesehen, meine ich.« »Bist du ein Optimist oder ein Pessimist?« »Weiß ich nicht genau.« »Ist dir klar, was die Worte bedeuten?« »Nein, nicht wirklich.« »Ein Optimist hat eine positive und hoffnungsvolle Einstellung. Ein Pessimist hat eine negative und zynische Einstel lung.« »Ich bin ein Optimist.« »Sehr gut, denn nichts auf der Welt ist unwiderlegbar. Jemanden, der partout nicht überzeugt werden will, kann man nicht überzeugen, selbst durch die besten Argumente nicht. Auf der anderen Seite gibt es reichlich Indizien, an die man sich klammern kann, wenn man unbedingt etwas glauben will.« »Zum Beispiel?« »Zum Beispiel der ungewöhnliche Fossilienbefund des Central Park. Zum Beispiel der kuriose pH-Wert des Reservoirs. Zum Beispiel die Standorte bestimmter Tanks im Zoo, die in den Löchern der riesigen Haken stehen, mit denen man den Park von einem Bezirk zum anderen gezogen hat.« »Hammerhart.«
»Es gibt einen Baum – nur vierundzwanzig Schritte in öst licher Richtung von der Kasse des Karussells entfernt –, in dessen Rinde zwei Namen geritzt sind. Sie tauchen in keinem Telefonbuch und bei keiner Volkszählung auf. Sie fehlen in al len Krankenhaus-, Steuer- und Wahlregistern. Der einzige Be weis für ihre Existenz sind diese Zeichen in der Rinde. Und noch eine Tatsache, die du vielleicht faszinierend findest: Nicht weniger als fünf Prozent der Namen, die in die Bäume des Central Park geritzt worden sind, können nirgendwo nachge wiesen werden.« »Das ist echt faszinierend.«
»Da alle Dokumente des Sechsten Bezirks mit dem Sechs ten Bezirk verschwunden sind, wird man nie beweisen kön nen, dass es die Namen von Bewohnern des Sechsten Bezirks sind und dass sie in die Bäume geritzt wurden, als sich der Park noch nicht in Manhattan befand. Manche Leute glauben, dass es erfundene Namen sind und dass, um die Zweifel noch wei ter zu treiben, auch die Liebesschwüre nur erfunden sind. An dere glauben anderes.« »Und was glaubst du?«
»Tja, selbst der hartnäckigste Pessimist kann wohl nur ein paar Minuten im Central Park verbringen, ohne das Gefühl zu bekommen, dass neben der Gegenwart noch eine andere Di mension der Zeit spürbar ist, oder?« » Könnte sein.« »Vielleicht vermissen wir einfach nur etwas, das uns verloren gegangen ist, vielleicht hoffen wir auch nur auf die Erfüllung unseres sehnlichsten Wunsches. Aber vielleicht spüren wir ja auch die Überbleibsel der Träume jenes Abends, als man den Park nach Manhattan gezogen hat. Vielleicht vermissen wir, was die Kin der damals verloren haben, und erhoffen uns, was sie sich erhofft haben.«
»Und was ist mit dem Sechsten Bezirk?« »Wie meinst du das?« »Was ist mit ihm passiert?« »Tja, in der Mitte, dort, wo einmal der Central Park war, klafft ein riesiges Loch. Auf ih rem Weg durch die Welt gleicht die Insel einem Bilderrah men, der das zeigt, was darunter liegt.« »Wo ist sie jetzt?« »In der Antarktis.« »Echt?«
»Die Bürgersteige sind eisbedeckt, die Fensterscheiben der öffentlichen Bücherei ächzen unter der Last des Schnees. Es gibt eiserstarrte Springbrunnen in eiserstarrten Parks, in denen eiserstarrte Kinder auf Schaukeln sitzen, die beim höchsten Schwung zu Eis gefroren sind – die eiserstarrten Seile halten sie in der Luft. Kutschpferde …« »Was für Pferde?« »Die Pfer de, die im Park die Kutschen ziehen.« »Das ist doch Quälerei.« »Sie sind mitten im Trab zu Eis erstarrt. Auf dem Flohmarkt sind die Leute beim Feilschen zu Eis erstarrt. Frauen mittleren Alters sind mitten im Leben zu Eis erstarrt. Richter sind bei der Urteilsverkündung zu Eis erstarrt, und ihre Hämmer schweben zwischen Schuld und Unschuld. Auf der Erde liegen die Eiskristalle der ersten Atemzüge von Babys und der letzten Atemzüge von Sterbenden. In einem eisigen Fach steht in ei nem vereisten Schrank eine Dose mit einer Stimme darin.«
»Dad?« »Ja?« »Das soll jetzt keine Unterbrechung sein, aber bist du fertig?« »Ende.« »Ich fand die Geschichte echt beein druckend.« »Das freut mich.« » Beeindruckend .«
»Dad?« »Ja?« »Mir ist gerade etwas eingefallen. Könnte es sein, dass ein paar der Sachen, die ich im Central Park ausge graben habe, aus dem Sechsten Bezirk stammen?«
Er zuckte mit den Schultern. Das mochte ich unglaublich gern.
»Dad?« »Ja, Kumpel?« »Nichts.«
[Menü]
MEINE GEFÜHLE
Ich war im Gästezimmer, als es geschah. Ich strickte dir beim Fernsehen
Weitere Kostenlose Bücher