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Extrem laut und unglaublich nah

Extrem laut und unglaublich nah

Titel: Extrem laut und unglaublich nah Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Safran Foer
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der Bäume und feuerten ihn an. Second Avenue, Third Avenue, Lexing ton, Park, Madison, Fifth Avenue, Columbus, Amsterdam, Broadway, Seventh, Eigth, Ninth, Tenth … Und wenn er sprang, jubelten die New Yorker an den Ufern Manhattans und des Sechsten Bezirks, sie bejubelten den Springer, und sie bejubelten sich selbst. Während der paar Sekunden, die sich der Weitspringer in der Luft befand, hatte jeder New Yorker das Gefühl, fliegen zu können.
    Oder vielleicht ist ›schweben‹ das bessere Wort. Denn der Grund für die Begeisterung, die der Sprung weckte, war ja nicht, dass der Springer von einem Bezirk in den anderen flog, sondern dass er sich zwischen beiden so lange in der Luft be fand.«
    »Stimmt.«
    »Einmal – vor vielen, vielen Jahren – berührte der Springer den Fluss mit der Spitze seines großen Zehs und löste so eine kleine Welle aus. Den Menschen stockte der Atem, als die Welle vom Sechsten Bezirk nach Manhattan zurückrollte und die Gläser mit den Glühwürmchen wie ein Windspiel anein ander klirren ließ.
    ›Sie haben wohl einen schlechten Anlauf genommen!‹, rief ein Stadtrat vom Ufer Manhattans.
    Der Weitspringer schüttelte den Kopf, er war eher verwirrt als beschämt.
    ›Sie hatten Gegenwind‹, meinte ein Stadtrat des Sechsten Bezirks und reichte dem Weitspringer ein Handtuch, damit er sich den Fuß abtrocknen konnte.
    Der Weitspringer schüttelte den Kopf.
    ›Vielleicht hat er zu viel zu Mittag gegessen‹, sagte ein Zu schauer zu seinem Nebenmann.
    ›Vielleicht hat er einfach seinen Zenit überschritten‹, sagte ein anderer Zuschauer, der seine Kinder mitgebracht hatte.
    ›Ich wette, er war nicht richtig bei der Sache‹, sagte ein an derer.›So weit kann man nur springen, wenn man mit ganzem Herzen bei der Sache ist.‹
    ›Nein‹, erwiderte der Weitspringer auf diese Mutmaßun gen. ›Stimmt alles nicht. Ich bin genau richtig gesprungen.‹
    Die Erleuchtung …« »Erleuchtung?« »Erkenntnis.« »Ach so.« »Sie kam den Zuschauern wie die kleine Welle, die der Zeh ausgelöst hatte, und als der Bürgermeister von New York sie aussprach, ging ein Seufzer der Zustimmung durch die Menge: ›Der Sechste Bezirk bewegt sich.‹« » Bewegt sich! «
    »Der Sechste Bezirk entfernte sich millimeterweise von New York. In einem Jahr wurde der ganze Fuß des Weitspringers nass, noch ein paar Jahre später sein Schienbein, und viele, vie le Jahre später – so viele Jahre später, dass niemand mehr wuss te, wie es gewesen war, ohne Angst zu feiern – musste der Weit springer die Arme recken und nach dem Sechsten Bezirk greifen, und schließlich kam er gar nicht mehr dran. Die acht Brücken zwischen Manhattan und dem Sechsten Bezirk ächz ten vor Anspannung, und dann brachen sie zusammen und stürzten in den Fluss. Die Tunnel wurden so eng, dass nichts mehr hindurchpasste, weil sie immer weiter in die Länge ge zogen wurden.
    Die Telefonleitungen und Stromkabel rissen, und die Be wohner des Sechsten Bezirks mussten auf veraltete Technolo gien zurückgreifen, die zum Großteil Kinderspielen glichen: Sie benutzten Vergrößerungsgläser, um sich das mitgebrachte Essen aufzuwärmen; wichtige Dokumente wurden zu Papier flugzeugen gefaltet und von einem Bürogebäude zum ande ren geworfen; die Marmeladengläser mit den Glühwürmchen, die man früher bei der jährlichen Feier des Sprungs nur zum Schmuck benutzt hatte, standen auf einmal als Ersatz für elek trisches Licht in jeder Wohnung.
    Dieselben Ingenieure, die am Schiefen Turm von Pisa gear beitet hatten … Wo ist das noch gleich?« » Italien! « »Richtig. Man holte sie herüber, damit sie sich ein Bild von der Lage machten.
    ›Die Insel will sich davonmachen‹, sagten sie.
    ›Ja, und was meinen Sie dazu?‹, fragte der Bürgermeister von New York.
    ›Dazu haben wir keine Meinung‹, antworteten sie.
    Natürlich versuchte man, den Sechsten Bezirk zu retten. Aber vielleicht ist ›retten‹ das falsche Wort, denn die Insel trieb ja offenbar aus eigenem Willen davon. Vielleicht passt ›aufhal ten‹ besser. Man verankerte Ketten an den Ufern aller Inseln, aber es dauerte nicht lange, da rissen die Glieder. Man setzte Betonpfähle rund um den Sechsten Bezirk, aber auch sie nütz ten nichts. Gurte nützten nichts, Magneten nützten nichts, selbst Gebete nützten nichts.
    Befreundete Jugendliche, deren Blechdosen-Telefone von einer Insel zur anderen reichten, mussten wie beim Drachen steigen immer mehr Schnur abrollen.
    ›Ich kann

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