Extrem laut und unglaublich nah
dich kaum noch hören‹, sagte das junge Mädchen in ihrem Schlafzimmer in Manhattan, während sie mit dem Fernglas ihres Vaters das Fenster ihres Freundes zu finden ver suchte.
›Falls nötig, brülle ich‹, sagte ihr Freund in seinem Schlaf zimmer im Sechsten Bezirk und richtete das Teleskop, das er zum letzten Geburtstag geschenkt bekommen hatte, auf ihre Wohnung.
Die Schnur, die sie miteinander verband, wurde unglaublich lang, so lang, dass andere Schnüre darangeknotet werden muss ten: seine Jo-Jo-Schnur, die Schnur ihrer Sprechpuppe, die Kordel, mit der sein Vater sein Tagebuch verschnürt hatte, das gewachste Band, das die Perlen ihrer Großmutter gehalten hatte, der Faden, ohne den der Quilt, den sein Großonkel seit Kinderzeiten aufbewahrt hatte, nur noch ein Haufen bunter Lumpen war. Alles, was sie sich zu erzählen hatten, enthielt da durch auch das Jo-Jo, die Puppe, das Tagebuch, die Kette und den Quilt. Sie hatten sich immer mehr zu erzählen und immer weniger Schnur.
Der Junge bat das Mädchen, ›Ich liebe dich‹ in ihre Dose zu sagen, ohne seine Bitte weiter zu erklären.
Sie verlangte auch keine Erklärung, und sie sagte auch nicht: ›Das ist doch affig‹, oder: ›Wir sind zu jung für die Liebe‹, ja sie erwiderte nicht einmal, dass sie ›Ich liebe dich‹ eigentlich nur sagte, weil er sie darum gebeten hatte. Stattdessen sagte sie: ›Ich liebe dich.‹ Die Wörter wanderten durch das Jo-Jo, die Puppe, das Tagebuch, die Perlenkette, den Quilt, die Wäscheleine, das Geburtstagsgeschenk, die Harfe, den Teebeutel, den Tennis schläger, den Saum des Hemdes, das er ihr eines Tages voller Leidenschaft vom Leib hätte reißen sollen.« » Ekelhaft! « »Der Junge tat einen Deckel auf seine Dose, löste sie von der Schnur und stellte die Liebe, die das Mädchen für ihn empfand, in ein Fach in seinem Schrank. Er durfte die Dose natürlich nicht mehr öffnen, weil der Inhalt sonst verloren gegangen wäre. Es reichte ihm zu wissen, dass die Liebe darin war.
Manche Menschen, unter anderem die Familie des Jun gen, wollten den Sechsten Bezirk nicht verlassen. Sie meinten: ›Warum denn? Der Rest der Welt entfernt sich doch von uns. Unser Bezirk bewegt sich ja gar nicht. Sollen die Leute doch Manhattan verlassen.‹ Wie kann man solchen Menschen be weisen, dass sie sich irren? Und wer hätte Lust dazu?« »Ich nicht.« »Ich auch nicht. Aber die meisten Bewohner des Sechs ten Bezirks leugneten einfach das Offensichtliche, und das lag weder an Sturheit noch Prinzipien noch Tapferkeit. Sie woll ten einfach nicht weg. Sie hatten ein gutes Leben, und warum sollten sie es aufgeben? Also trieben sie Millimeter für Milli meter davon.
All das bringt uns auf den Central Park. Denn früher befand sich der Central Park nicht an seinem jetzigen Ort.« »In der Geschichte, meinst du, oder?«
»Früher befand er sich mitten im Sechsten Bezirk. Er war die Freude und der Mittelpunkt des ganzen Bezirks. Aber als klar war, dass der Sechste Bezirk tatsächlich davontrieb und weder zu retten noch aufzuhalten war, hielt man in New York ein Referendum ab und beschloss, den Park zu retten.« »Referendum?« »Abstimmung.« »Und?« »Und sie fiel einstimmig aus. Selbst die stursten Bewohner des Sechsten Bezirks mussten sich dem Beschluss beugen.
Man schlug riesige Haken in den Ostrand des Geländes, und der Park wurde von den New Yorkern vom Sechsten Be zirk nach Manhattan gezogen, wie ein Teppich über den Fuß boden.
Die Kinder durften sich in den Park legen, während er ver schoben wurde. Das war ein Zugeständnis, obwohl niemand wusste, warum ein Zugeständnis nötig war oder warum man dieses Zugeständnis ausgerechnet den Kindern machen muss te. Der Himmel über New York wurde vom größten Feuer werk aller Zeiten erhellt, und die Philharmoniker spielten sich die Seele aus dem Leib.
Die New Yorker Kinder lagen eng nebeneinander auf dem Rücken, sie bedeckten jeden Zentimeter des Parks, als wäre er nur für sie und für diesen Augenblick entworfen worden. Das Feuerwerk regnete auf sie herab und löste sich erst dicht über dem Boden auf, und die Kinder wurden millimeter- und se kundenweise nach Manhattan und ins Erwachsenenleben ge zogen. Als der Park seinen jetzigen Standort erreichte, waren alle Kinder eingeschlafen, und der Park war ein Mosaik ihrer Träume. Manche schrien im Schlaf, manche lächelten unbe wusst, manche lagen einfach ganz still da.«
»Dad?« »Ja?« »Ich weiß, dass es in Wahrheit keinen
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