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Extrem laut und unglaublich nah

Extrem laut und unglaublich nah

Titel: Extrem laut und unglaublich nah Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Safran Foer
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einen weißen Schal. Ich sah Nachrichten. Das Verstreichen der Zeit glich einer Hand, die aus einem Zug winkte, mit dem ich gern gefahren wäre. Du hattest dich ge rade auf den Weg zur Schule gemacht, und ich wartete schon wieder auf dich. Hoffentlich denkst du nie so sehr an etwas, wie ich an dich denke.
    Ich weiß noch, dass der Vater eines vermissten Mädchens interviewt wurde.
    Glauben Sie immer noch, dass man sie lebend findet?
    Ja, das glaube ich.
    Manchmal schaute ich zum Fernseher.
    Manchmal schaute ich auf meine Hände, die deinen Schal strickten.
    Manchmal aus dem Fenster zu deinem Fenster.
    Gibt es irgendwelche neuen Hinweise?
    Nicht, dass ich wüsste.
    Aber Sie hoffen weiter.
    Ja.
    Was bräuchte es, damit Sie die Hoffnung aufgeben?
    Musste man ihn quälen?
    Er legte sich eine Hand an die Stirn und sagte: Es bräuchte eine Leiche.
    Die Interviewerin fasste sich ans Ohr.
    Sie sagte: Entschuldigen Sie bitte. Eine Sekunde.
    Sie sagte: In New York ist irgendetwas passiert.
    Der Vater des vermissten Mädchens fasste sich an die Brust und blickte an der Kamera vorbei. Auf seine Frau? Auf ei nen Unbekannten? Auf etwas, das er gern sehen wollte?
    Es mag komisch klingen, aber der Anblick des brennenden Gebäudes berührte mich nicht. Ich war nicht einmal über rascht. Ich strickte weiter an deinem Schal, und ich dachte weiter über den Vater des vermissten Mädchens nach. Er gab die Hoffnung nicht auf.
    Aus einem Loch im Gebäude quoll unentwegt Rauch.
    Schwarzer Rauch.
    Ich kann mich noch an den schlimmsten Sturm meiner Kindheit erinnern. Von meinem Fenster aus sah ich, wie die Bücher aus den Regalen meines Vaters gerissen wurden. Sie flogen durch die Luft. Ein Baum, älter als jeder Mensch, kippte um, weg von unserem Haus. Er hätte auch zur ande ren Seite kippen können.
    Als das zweite Flugzeug einschlug, begann die Nachrich ten-Moderatorin zu schreien.
    Ein Feuerball rollte aus dem Gebäude und an der Fassade hinauf.
    Millionen Zettel wirbelten durch die Luft. Sie blieben in der Luft hängen und bildeten einen Ring um das Gebäude. Wie die Ringe des Saturn. Die Ringe, die die Kaffeetassen auf dem Schreibtisch meines Vaters hinterlassen hatten. Der Ring, nach dem Thomas kein Bedürfnis hatte, wie er mein te. Ich erwiderte, er sei nicht der Einzige mit Bedürfnissen.
    Am nächsten Morgen ließ uns mein Vater unsere Namen in den Stamm des Baumes ritzen, der vom Haus weggekippt war. Das war unser Dank.
    Deine Mutter rief an.
    Siehst du gerade die Nachrichten?
    Ja.
    Hat sich Thomas bei dir gemeldet?
    Nein.
    Bei mir auch nicht. Ich mache mir Sorgen.
    Warum machst du dir Sorgen?
    Habe ich doch gesagt. Er hat sich nicht gemeldet.
    Aber er ist doch im Laden.
    Er hatte eine Verabredung in dem Gebäude, und er hat sich nicht bei mir gemeldet.
    Ich drehte den Kopf zur Seite. Ich hatte das Gefühl, mich erbrechen zu müssen.
    Ich ließ das Telefon fallen, rannte ins Bad und erbrach mich.
    Ich wollte den Teppich nicht ruinieren. So bin ich eben.
    Ich rief deine Mutter zurück.
    Sie sagte mir, du seiest zu Hause. Sie habe gerade mit dir telefoniert.
    Ich sagte ihr, ich würde hinübergehen und auf dich aufpassen.
    Er darf keine Nachrichten sehen.
    Gut.
    Wenn er irgendetwas fragt, sag einfach, alles wird gut.
    Ich erwiderte: Alles wird gut.
    Sie sagte: Die U-Bahnen sind ein Chaos. Ich gehe zu Fuß nach Hause. In einer Stunde müsste ich da sein.
    Sie sagte: Ich liebe dich.
    Sie war seit zwölf Jahren mit deinem Vater verheiratet. Ich kannte sie seit fünfzehn Jahren. Sie hatte mir zum ersten Mal gesagt, dass sie mich liebte.
    Da wusste ich, dass sie es wusste.
    Ich rannte über die Straße.
    Der Portier sagte mir, du seiest vor zehn Minuten nach oben gegangen.
    Er fragte, ob alles in Ordnung sei.
    Ich nickte.
    Was ist denn mit Ihrem Arm los?
    Ich schaute auf meinen Arm. Die Bluse war durchgeblu tet. War ich gestürzt, ohne es zu merken? Hatte ich mich gekratzt? Da wusste ich, dass ich es wusste.
    Als ich klingelte, machte niemand auf, also öffnete ich die Tür mit meinem Schlüssel.
    Ich rief nach dir.
    Oskar!
    Du hast nicht geantwortet, aber ich wusste, dass du da warst. Ich konnte dich spüren.
    Oskar!
    Ich schaute in den Garderobenschrank. Ich schaute hinter das Sofa. Auf dem Kaffeetisch stand ein Scrabble-Spiel. Wörter liefen ineinander. Ich ging in dein Zimmer. Es war leer. Ich ging ins Schlafzimmer deiner Eltern. Ich wusste, dass du irgendwo warst. Ich schaute in die Kleiderkammer deines Vaters. Sein Smoking hing

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