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Extrem laut und unglaublich nah

Extrem laut und unglaublich nah

Titel: Extrem laut und unglaublich nah Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Safran Foer
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vom Gebäude entfernt war.
    Ich hasse dich, würde er in meinen Augen lesen.
    Ich hasse dich, würde ich in seinen Augen lesen.
    Dann würde es eine gewaltige Explosion geben, und das Gebäude würde schwanken, als wollte es umkippen, so habe ich es jedenfalls in den Beschreibungen im Internet gelesen, obwohl ich wünschte, sie nicht gelesen zu haben. Dann würde Rauch zu mir aufsteigen, und überall würden plötzlich die Leute schreien. Ich hatte die Schilderung eines Mannes gele sen, der es fünfundachtzig Treppen weit nach unten geschafft hatte, also mindestens zweitausend Stufen, und wie er berich tete, hatten die Leute »Hilfe!« und »Ich will nicht sterben!« ge schrien, und ein Firmenboss hatte »Mama!« gerufen.
    Es würde so heiß werden, dass ich Brandblasen bekäme. Es täte so gut, der Hitze zu entkommen, aber andererseits wäre ich tot, wenn ich unten auf den Bürgersteig knallte, versteht sich von selbst. Für was würde ich mich entscheiden? Für den Sprung oder für das Verbrennen? Wahrscheinlich für den Sprung, weil ich dann keine Schmerzen mehr hätte. Aber vielleicht würde ich auch lieber verbrennen, weil ich dann doch noch eine Chance hätte zu entkommen, und selbst wenn ich die Chance nicht hätte, wäre es wohl besser, Schmerzen zu haben, als überhaupt nichts mehr zu fühlen, oder?
    Mir fiel mein Handy ein.
    Ich hatte noch ein paar Sekunden.
    Wen sollte ich anrufen?
    Was sollte ich sagen?
    Ich dachte an alles, was man einander je sagt, und ich dach te daran, dass jeder sterben muss, ob in einer Millisekunde oder in Tagen oder Monaten oder, wenn man gerade geboren worden ist, in 76,5 Jahren. Alles, was geboren ist, muss sterben, und das heißt, dass unsere Leben wie Wolkenkratzer sind. Der Rauch steigt unterschiedlich schnell auf, aber alle stehen in Flammen, und wir sitzen alle in der Falle.
    Von der Aussichtsplattform des Empire State Building hat man einen herrlichen Blick. Ich habe mal irgendwo gelesen, dass die Leute unten auf der Straße wie Ameisen aussehen, aber das stimmt nicht. Sie sehen aus wie winzige Menschen. Und die Autos sehen aus wie winzige Autos. Und selbst die Gebäude sind winzig. Man hat das Gefühl, als wäre New York eine Miniaturnachbildung von New York, und das ist schön, weil man so sehen kann, wie es wirklich ist, anders, als wenn man mitten darin steht. Dort oben ist man extrem einsam, und man fühlt sich weit weg von allem. Außerdem hat man Angst, weil man auf so viele Arten sterben kann. Aber zu gleich fühlt man sich sicher, weil einen so viele Menschen umgeben. Ich hatte immer eine Hand an der Mauer, als ich vorsichtig von einem Aussichtspunkt zum nächsten ging. Ich sah alle Schlösser, die ich bisher zu öffnen versucht hatte, und auch die 161999831, die ich noch nicht ausprobiert hatte.
    Ich ging in die Knie und kroch zu einem der Fernrohre. Ich klammerte mich daran fest und zog mich hoch, und dann hol te ich einen Vierteldollar aus dem Kleingeldspender, den ich am Gürtel trug. Als die Metallverschlüsse des Fernrohrs auf glitten, waren weit entfernte Dinge plötzlich unglaublich nah, zum Beispiel das Woolworth Building und der Union Square und das riesige Loch, wo einst das World Trade Center gestan den hatte. Ich schaute in das Fenster eines Bürogebäudes, das ungefähr zehn Blocks entfernt war. Ich brauchte ein paar Se kunden, um die Linse scharf zu stellen, aber dann konnte ich einen Mann sehen, der an seinem Schreibtisch saß und etwas schrieb. Was er wohl schrieb? Er sah überhaupt nicht aus wie Dad, aber er erinnerte mich an Dad. Ich drückte mein Gesicht dichter ans Fernrohr, und meine Nase drückte sich auf das kal te Metall. Er war Linkshänder, genau wie Dad. Hatte er wie Dad eine Lücke zwischen den Vorderzähnen? Ich hätte gern gewusst, was er gerade dachte. Wen vermisste er? Was bereute er? Meine Lippen berührten das Metall, es war wie ein Kuss.
    Mr Black betrachtete gerade den Central Park. Ich sagte zu ihm, ich wolle wieder nach unten. »Und was ist mit Ruth?« »Wir können ein anderes Mal wiederkommen.« »Aber da wir nun einmal hier sind?« »Ich mag jetzt nicht.« »Es dauert doch nur ein paar …« »Ich will nach Hause.« Vermutlich merkte er, dass ich kurz davor war zu heulen. »Gut«, sagte er, »gehen wir nach Hause.«
    Wir stellten uns am Ende der Schlange für den Fahrstuhl an.
    Ich betrachtete die Leute und fragte mich, wo sie herkamen und wen sie vermissten und was sie bereuten.
    In der Schlange standen eine dicke Frau

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