Extrem laut und unglaublich nah
mit einem dicken Kind, ein Japaner mit zwei Kameras und ein Mädchen an Krü cken, auf dessen Gips sich eine Menge Leute verewigt hatten. Ich hatte das krasse Gefühl, Dads Handschrift zu entdecken,
wenn ich mir den Gips genauer anschaute. Vielleicht hatte er geschrieben: »Gute Besserung.« Oder einfach nur seinen Na men. Uns gegenüber stand eine alte Frau. Sie starrte mich an, und das war mir peinlich. Sie hielt ein Klemmbrett in der Hand, aber ich konnte nicht sehen, was darauf geklemmt war, und sie trug altmodische Kleider. Ich schwor mir, nicht als Erster wegzuschauen, tat es aber doch. Ich zupfte Mr Black am Ärmel und machte ihn auf sie aufmerksam. »Weißt du was?«, flüsterte er. »Was?« »Ich wette, das ist sie.« Aus irgendeinem Grund wusste ich, dass er Recht hatte. Aber ich ahnte nicht, dass wir beide jeweils etwas anderes in ihr sahen und suchten.
»Sollen wir sie ansprechen?« »Denke schon.« »Aber wie?« »Keine Ahnung.« »Geh einfach hin und sag Hallo.« »Man kann nicht einfach hingehen und Hallo sagen.« »Sag ihr die Uhrzeit.« »Aber sie hat mich doch gar nicht nach der Uhrzeit gefragt.« »Dann frag sie eben nach der Uhrzeit.« »Machen Sie das doch.« »Mach du es.« Weil wir uns so stritten, merkten wir gar nicht, dass sie sich längst neben uns gestellt hatte. »Wie ich sehe, überlegen Sie gerade, ob Sie gehen sollen«, sagte sie, »aber vielleicht interessiert Sie eine ganz besondere Führung durch dieses ganz besondere Gebäude?« »Wie heißen Sie?«, fragte ich. Sie sagte: »Ruth.« Mr Black sagte: »Wir sind ganz wild auf eine Führung.«
Sie lächelte, holte tief Luft und begann, beim Gehen zu reden. »Baubeginn des Empire State Building war im März 1930 an der Stelle, an der das alte Waldorf-Astoria-Hotel gestanden hatte, Fifth Avenue Nr. 350, 34. Straße. Ein Jahr und fünfundvierzig Tage später war es fertig – sieben Millionen Arbeitsstunden, einschließlich Sonn- und Feiertagen. Alles am Gebäude war so angelegt, dass der Bau möglichst zügig vorangehen konnte – man verwendete so viele Fertigbauteile wie möglich –, sodass man jede Woche viereinhalb Stockwerke schaff te. Für den Rohbau brauchte man ein knappes halbes Jahr.«
Das war kürzer als meine Suche nach dem Schloss bisher.
Sie holte Luft.
»Der ursprüngliche Entwurf des Architekturbüros Shreve, Lamb & Harmon Associates sah sechsundachtzig Stockwerke vor, aber man setzte noch einen fünfzig Meter hohen Anker mast für Zeppeline darauf. Heute wird er als Sendemast für Radio und Fernsehen benutzt. Die Kosten für das Gebäude, einschließlich des Grundstücks, auf dem es steht, betrugen $40948000. Die Kosten für das Gebäude selbst betrugen $24718000, aufgrund der gesunkenen Lohn- und Material kosten während der Großen Depression weniger als die Hälfte der veranschlagten $50000000.« Ich fragte: »Was war das, die Große Depression?« Mr Black sagte: »Erkläre ich dir später.«
»Bis zum Bau des World Trade Centers im Jahr 1972 war das Empire State Building mit knapp 420 Metern das höchste Gebäude der Welt. Nach seiner Eröffnung erwies sich die Su che nach Mietern als so schwierig, dass es von den New Yorkern Empty State Building genannt wurde.« Ich musste lachen. »Das Gebäude wurde nur durch diese Aussichtsplattform vor dem Bankrott bewahrt.« Mr Black gab der Wand einen Klaps, als wäre er stolz auf die Aussichtsplattform.
»Das Empire State Building wird von 60000 Tonnen Stahl gehalten. Es besitzt ungefähr 6500 Fenster und 10000000 Backsteine, und sein Gewicht beträgt etwa 365000 Tonnen.« »Ziemlich hoher Betrag«, sagte ich. »Die Fassade dieses Wolkenkratzers besteht aus mehr als 165000 Quadratmetern Marmor und Kalkstein aus Indiana. Für das Innere wurde Marmor aus Frankreich, Italien, Deutschland und Belgien verwendet. Tatsächlich besteht das berühmteste Gebäude von New York aus Baustoffen, die von überall herstammen, nur nicht aus New York selbst, ganz ähnlich, wie die Stadt durch ihre Einwande rer groß geworden ist.« »Sehr richtig«, sagte Mr Black und nickte.
»Im Empire State Building wurden Dutzende Filme ge dreht, hier hielten ausländische Würdenträger ihre Empfänge ab, und 1945 schlug sogar ein Bomber im neunundsiebzigsten Stock ein.« Ich dachte an fröhliche, sichere Dinge wie den Reißverschluss hinten auf Moms Kleid oder dass Dad immer ein Glas Wasser hatte trinken müssen, wenn er zu lange gepfif fen hatte. »Einmal ist ein Fahrstuhl abgestürzt. Es wird
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