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Extrem laut und unglaublich nah

Extrem laut und unglaublich nah

Titel: Extrem laut und unglaublich nah Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Safran Foer
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– »Willst du mich wiedersehen?« –, ich riss die Seite heraus und gab sie dem Portier, am nächsten Morgen kehrte ich zu ihrem Gebäude zurück, ich wollte ihr das Leben nicht noch schwerer machen, aber ich wollte auch nicht aufgeben, in ihrem Fenster hing eine Nachricht: »Ich will dich nicht wiedersehen wollen«, die Wörter hatten eine Bedeutung, aber sie bedeuteten nicht Ja. Ich las auf der Straße Steinchen auf und warf sie an ihr Fenster, weil ich hoffte, dass sie mich hörte und begreifen würde, was ich meinte, ich wartete, sie kam nicht ans Fenster, ich schrieb eine Nachricht – »Was soll ich tun?« – und gab sie dem Portier, er sagte: »Ich sorge dafür, dass sie Ihre Nachricht bekommt«, ich konnte nicht sagen: »Vielen Dank.« Am nächsten Morgen kehrte ich wieder zu ihrem Haus zurück, in ihrem Fenster hing eine Nachricht, die erste Nachricht: »Verlass mich nicht«, ich las Steinchen auf, ich warf sie, sie klopften wie Finger an ihre Fensterscheibe, ich schrieb eine Nachricht: »Ja oder nein?«, wie lange sollte das noch so weitergehen? Am nächsten Tag entdeckte ich am Broadway einen Markt, dort kaufte ich einen Apfel, wenn sie mich nicht wollte, würde ich eben verschwinden, ich hatte keine Ahnung, wohin, aber ich würde einfach umkehren und verschwinden, sie hatte keine Nachricht ins Fenster gehängt, also warf ich den Apfel, ich befürchtete, dass das Glas auf mich hinabregnen würde, ich hatte keine Angst vor den Scherben, der Apfel flog durchs Fenster in ihre Wohnung, der Portier stand vor dem Gebäude, er sagte: »Haben Sie ein Glück, dass das Fenster offen steht, Mann«, aber ich wusste, dass ich kein Glück hatte, er gab mir einen Schlüssel. Ich fuhr im Fahrstuhl nach oben, die Tür war offen, der Geruch der Wohnung erinnerte mich an das, was ich vierzig Jahre lang zu vergessen versucht hatte, aber nicht hatte vergessen können. Ich steckte den Schlüssel ein,»Nur das Gästezimmer!«, rief sie mir aus unserem Schlafzimmer zu, jenem Zimmer, in dem wir früher immer geschlafen und geträumt und Sex gehabt hatten. Und wir begannen unser zweites gemeinsames Leben … Als ich nach elf Stunden Flug und vierzig Jahren Abwesenheit aus dem Flugzeug stieg, warf der Mann einen Blick auf meinen Pass und fragte mich, aus welchem Grund ich in die USA gekommen sei, ich schrieb in mein Tagebuch: »Um zu trauern«, und dann: »Um zu trauern versuchen, zu leben«, er sah mich kurz an und fragte dann, wie das zu verstehen sei, geschäftlich oder zum Privatvergnügen, ich schrieb: »Nichts von beidem.« »Und wie lange wollen Sie hier trauern und versuchen, zu leben?« Ich schrieb: »Für den Rest meines Lebens.« »Sie wollen also bleiben?« »So lange wie möglich.« »Heißt das jetzt ein Wochenende oder ein Jahr?« Darauf schrieb ich nichts. Der Mann sagte: »Der Nächste, bitte.« Ich sah zu, wie die Gepäckstücke auf dem Förderband im Kreis fuhren, jedes Gepäckstück enthielt die Sachen eines Menschen, ich sah zu, wie Babys im Kreis fuhren, jedes verkörperte die Hoffnung auf ein mögliches Leben, ich folgte den Pfeilen für die Leute, die nichts zu verzollen hatten, am liebsten hätte ich laut aufgelacht, aber ich schwieg. Einer der Sicherheitsbeamten winkte mich zu sich, »Das sind ziemlich viele Koffer für jemanden, der nichts zu verzollen hat«, sagte er, ich nickte, denn ich wusste ja, dass Menschen, die nichts zu verzollen haben, das meiste mit sich herumschleppen, ich öffnete die Koffer, »Ganz schön viel Papier«, sagte er, ich zeigte ihm meine linke Handfläche, »Das ist wirklich irre viel Papier, meine ich.« Ich schrieb: »Alles Briefe an meinen Sohn. Ich konnte sie ihm nicht schicken, als er noch lebte. Inzwischen ist er tot. Ich spreche nicht. Tut mir Leid.« Der Beamte warf seinem Kollegen einen Blick zu, sie grinsten sich an, sollten sie sich ruhig auf meine Kosten amüsieren, das war ein kleiner Preis, sie ließen mich durch, nicht weil sie mir geglaubt hätten, sondern weil sie sich nicht die Mühe machen wollten, mich zu verstehen, ich entdeckte einen öffentlichen Fernsprecher und rief deine Mutter an, so weit reichte mein Plan, meine Vermutungen reichten so weit, dass sie noch lebte, dass sie immer noch in derselben Wohnung lebte, die ich vor vierzig Jahren verlassen hatte, vermutlich würde sie mich abholen, und dann hätte alles wieder einen Sinn, wir würden trauern und versuchen zu leben, das Telefon klingelte in einem fort, wir würden einander vergeben, es

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