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Extrem laut und unglaublich nah

Extrem laut und unglaublich nah

Titel: Extrem laut und unglaublich nah Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Safran Foer
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Geschichte erzählt hatte, hatte er immer wieder genickt und mich unverwandt angeschaut. Er schaute mich so eindringlich an, dass ich mich fragte, ob er mir wirklich zuhörte oder stattdessen auf etwas unglaublich Leises horchte, das hinter meinen Worten lag, so ähnlich wie ein Me talldetektor, aber eben nicht für Metall, sondern für die Wahr heit.
    Ich sagte zu ihm: »Ich suche jetzt seit sechs Monaten, und ich bin kein bisschen schlauer als vor sechs Monaten. Im Grunde habe ich sogar ein Minus-Wissen, weil ich die ganze Zeit den Französisch-Unterricht bei Marcel geschwänzt habe. Außerdem musste ich gugolplexviele Lügen erzählen, und da bei fühle ich mich auch nicht gerade toll, und ich habe jede Menge Leute belästigt, die wahrscheinlich so genervt von mir sind, dass ich mich nie mehr wirklich mit ihnen anfreunden kann, und ich vermisse meinen Dad viel mehr als am Anfang meiner Suche, obwohl der Sinn der Suche doch eigentlich darin bestehen sollte, ihn nicht mehr zu vermissen.«
    Ich sagte zu ihm: »Es tut mir langsam viel zu weh.«
    Er schrieb: »Was tut dir weh?«
    Dann tat ich etwas, das mich selbst überraschte. Ich sagte: »Warten Sie mal kurz«, und ich sauste die Treppen hinunter, über die Straße und vorbei an Stan, obwohl er sagte: »Du hast Post!«, und die 105 Stufen hinauf. Die Wohnung war leer. Ich wollte wunderschöne Musik hören. Ich wollte Dad pfeifen hören, ich wollte hören, wie sein roter Stift auf dem Papier kratzte, ich wollte, dass das Pendel in seiner Kleiderkammer hin und her schwang, ich wollte, dass er sich gerade die Schuhe zuband. Ich holte das Telefon aus meinem Zimmer. Ich rannte die 105 Stufen wieder hinunter, ohne mich bei Stan aufzuhalten, der zum zweiten Mal sagte: »Du hast Post!«, ich sauste wieder die 72 Stufen hinauf und in Omas Wohnung. Der Mieter stand immer noch da wie zuvor, er stand da, als wäre ich gar nicht weg gewesen oder nie da gewesen. Ich wickelte das Telefon aus dem Schal, den Oma nie fertig bekam, stöpselte es ein und spielte ihm die ersten fünf Nachrichten vor. Er verzog keine Miene. Er sah mich nur an. Nein, im Grunde sah er mich gar nicht an, sondern in mich hinein, als hätte sein Detektor in meinem Inneren eine gewaltige Wahrheit aufgespürt.
    »Kein Mensch hat das je gehört«, sagte ich.
    »Auch nicht deine Mutter?«, schrieb er.
    »Die schon gar nicht.«
    Er verschränkte die Arme vor der Brust und schob sich die Hände unter die Achseln, was bei ihm das Gleiche war, als wenn man sich die Hände vor den Mund legt. Ich sagte: »Nicht einmal Oma«, und seine Hände begannen zu zittern wie Vögel, die unter einer Tischdecke gefangen sitzen. Schließlich zog er sie wieder heraus. Er schrieb: »Vielleicht hat er gesehen, was passiert ist, und ist hineingerannt, um jemanden zu retten.« »Bestimmt. So war er.« »War er ein guter Mensch?« »Er war der beste Mensch auf der Welt. Aber er hatte eine Verabredung in dem Gebäude. Außerdem hat er gesagt, dass er aufs Dach ge gangen sei, und darum muss er oberhalb der Stelle gewesen sein, wo das Flugzeug eingeschlagen ist, und das bedeutet, dass er nicht hineingerannt ist, um jemanden zu retten.« »Vielleicht hat er das nur so gesagt.« »Warum sollte er?«
    »Was für eine Verabredung hatte er denn?« »Er führt doch unseren Familienbetrieb, den Juwelierladen. Er hat ständig ir gendwelche Treffen.« »Den Familienbetrieb?« »Mein Opa hat ihn gegründet.« »Wer ist dein Opa?« »Keine Ahnung. Er hat meine Oma schon vor meiner Geburt verlassen. Sie behaup tet, dass er mit den Tieren sprechen und Skulpturen machen konnte, die wirklicher als die Wirklichkeit waren.« »Was meinst du dazu?« »Ich bin der Meinung, dass man nicht mit Tieren sprechen kann. Außer vielleicht mit Delphinen. Oder in Zei chensprache mit Schimpansen.« »Was denkst du über deinen Opa?« »Ich denke überhaupt nicht an ihn.«
    Er drückte auf ›Play‹ und hörte sich die Nachrichten noch einmal an, und nach der fünften Nachricht drückte ich noch einmal auf ›Stop‹.
    Er schrieb: »In der letzten Nachricht klingt er sehr gefasst.« Icherwiderte: »In National Geographic habe ich mal gelesen, dass Tiere panisch werden und völlig durchdrehen, wenn sie glau ben , sterben zu müssen. Aber sobald sie wissen , dass sie sterben, werden sie total ruhig.« »Vielleicht wollte er, dass du dir keine Sorgen machst.« Vielleicht. Vielleicht hatte er nicht gesagt, dass er mich liebte, weil er mich liebte. Aber diese Erklärung

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