Extrem laut und unglaublich nah
reichte mir nicht. Ich sagte: »Ich muss wissen, wie er gestorben ist.«
Er blätterte zurück und zeigte auf: »Warum?«
»Damit ich aufhöre, mir vorzustellen, wie er gestorben ist. Das stelle ich mir ständig vor.«
Er blätterte zurück und zeigte auf: »Tut mir Leid.«
»Im Internet habe ich ziemlich viele Videos gefunden, die stürzende Körper zeigen. Sie waren auf einer portugiesischen Website, und dort konnte man alles Mögliche sehen, was hier nicht gezeigt wurde, obwohl es doch hier bei uns passiert ist. Wenn ich herausfinden will, wie Dad gestorben ist, muss ich die fremden Sprachen immer erst mit einem Übersetzungs programm entschlüsseln, etwa ›September‹, der auf Polnisch ›Wrzesién‹ heißt, oder irgendetwas auf Deutsch, zum Beispiel ›Menschen, die aus brennenden Gebäuden springen‹. Ich muss mir die Wörter mit Google suchen. Es macht mich irrsinnig wütend, dass die Menschen überall auf der Welt Dinge wissen, die ich nicht weiß, denn es ist doch hier passiert, und es ist mir passiert, und darum müsste ich es doch wissen, oder?
Ich habe Standbilder der portugiesischen Videos ausgedruckt und mir extrem genau angeschaut. Es gibt einen Körper, der Dad sein könnte. Er trägt ganz ähnliche Sachen, und wenn ich das Bild so stark vergrößere, dass die Pixel alles bis zur Un kenntlichkeit verschwimmen lassen, kann ich manchmal eine Brille erkennen. Das bilde ich mir jedenfalls ein. Aber wahr scheinlich kann ich sie gar nicht erkennen. Ich will einfach nur, dass er es ist.«
»Möchtest du, dass er gesprungen ist?«
»Ich will mir einfach nichts mehr vorstellen müssen. Wenn ich herausfinden könnte, wie er gestorben ist, wenn ich genau wüsste, wie er gestorben ist, müsste ich mir nicht mehr vor stellen, dass er in einem Fahrstuhl umgekommen ist, der zwi schen den Stockwerken festsaß, was manchen Menschen pas siert ist, und ich müsste mir nicht mehr vorstellen, dass er außen am Gebäude hinuntergeklettert ist wie jemand, den ich in einem polnischen Video gesehen habe, oder dass er versucht hat, ein Tischtuch als Fallschirm zu benutzen, was ein paar Leute, die in Windows of the World festsaßen, tatsächlich ge tan haben. Man kann auf so viele Arten sterben, und ich muss einfach wissen, wie er gestorben ist.«
Er streckte mir seine Hände hin, als wollte er, dass ich sie nahm. »Sind das Tätowierungen?« Er ballte die rechte Hand. Ich blätterte zurück und zeigte auf: »Warum?« Er zog seine Hände zurück und schrieb: »Sie haben mir die Sache erleichtert. Statt ständig Ja und Nein schreiben zu müssen, kann ich einfach meine Hände zeigen.« »Aber warum nur JA und NEIN?« »Ich habe nur zwei Hände.« »Wie wäre es mit: ›Ich denke darüber nach‹, oder:›Vermutlich‹, oder:›Kann sein‹?« Er schloss die Augen und überlegte kurz. Dann zuckte er mit den Schultern, genau wie Dad.
»Sind Sie immer stumm gewesen?« Er zeigte mir die rechte Hand. »Warum sprechen Sie dann nicht?« Er schrieb: »Ich kann nicht.« »Warum nicht?« Er zeigte auf: »Ich kann nicht.« »Sind Ihre Stimmbänder beschädigt oder so?« »Irgendetwas ist beschädigt.« »Wann haben Sie zuletzt etwas gesagt?« »Vor lan ger, langer Zeit.« »Was war das letzte Wort, das Sie gesagt ha ben?« Er blätterte zurück und zeigte auf: »Ich.« » Ich war das letzte Wort, das Sie gesagt haben?« Er öffnete die linke Hand. »Ist das überhaupt ein richtiges Wort?« Er zuckte mit den Schultern. »Versuchen Sie manchmal zu sprechen?« »Ich weiß, was dann passiert.« »Was denn?« Er blätterte zurück und zeig te auf: »Ich kann nicht.«
»Versuchen Sie es.« »Jetzt?« »Versuchen Sie, etwas zu sagen.« Er zuckte mit den Schultern. Ich sagte: »Bitte.«
Er öffnete den Mund und legte sich eine Hand an den Kehlkopf. Seine Finger flatterten wie die von Mr Black, als er in seiner Kartei nach einer Ein-Wort-Biographie gesucht hat te, aber es kam nichts, nicht einmal ein hässlicher Laut, nicht einmal ein Atemgeräusch.
Ich fragte ihn: »Was wollten Sie sagen?« Er blätterte zurück und zeigte auf: »Tut mir Leid.« Ich sagte: »Ist schon gut.« Ich sagte: »Vielleicht sind Ihre Stimmbänder wirklich beschädigt.
Sie sollten mal zu einem Spezialisten gehen.« Ich fragte ihn:
»Was wollten Sie sagen?« Er zeigte auf: »Tut mir Leid.«
Ich fragte: »Darf ich Ihre Hände fotografieren?«
Er legte seine Hände mit den Handflächen nach oben in den Schoß. Wie ein Buch.
JA und NEIN.
Ich stellte Opas
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