Extrem
Anfangsstadium der Krankheit möglich. Da sich mit der Zeit immer mehr Hirnsubstanz abbaut, verliert sich die Fähigkeit, ekelerregende Dinge auszumachen, im Verlauf der Krankheit. Auch andere Emotionen wie Angst oder Freude können später kaum noch erkannt oder unterschieden werden. Wenn wir uns also vor dem einen oder anderen ekeln, können wir uns glücklich schätzen. Wir sind gesund.
Erstaunlich ist, dass Ekel nicht in jedem Fall gesundheitsfördernd ist. Normalerweise wird unser Immunsystem auf den Plan gerufen, wenn wir mit irgendeiner Substanz in Kontakt kommen, die uns krank machen könnte. Ekel schützt davor, indem er verhindert, dass diese Substanz überhaupt an oder in unseren Körper gelangt. Anders ist das im Fall der ebenso verbreiteten wie lästigen Herpes-Bläschen, die – wie in zahlreichen klinischen Studien nachgewiesen – dann vermehrt auftreten, wenn Versuchspersonen mit ekelerregenden Aufnahmen oder Gegenständen konfrontiert wurden. (Auch bei Neurodermitis oder Schuppenflechte spielt Ekel eine auslösende Rolle.) Im Fall der Herpes-Bläschen lähmt Ekel nicht nur unsere Immunabwehr, er erzeugt auch Stress und macht uns eindeutig krank. Warum das so ist, konnte noch nicht abschließend geklärt werden.
Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral
Die Heftigkeit, mit der uns ein Gefühl von Ekel überfällt, ist individuell verschieden; je nachdem, ob wir uns eher als robust beschreiben würden, als empfindlich oder als krankhaft ekelsensibel. Es gibt Unterschiede in der Sozialisation sowie kulturelle Gegensätze über Grenzen und Länder hinweg. Mein Kollege Harro erzählte mir beispielsweise, dass die rohe Leber einer gerade erlegten Robbe für Inuit eine Delikatesse sei. Die Leber zu probieren habe ihn große Überwindung gekostet, denn der Körper der Robbe habe vor gefühlten zwei Minuten ja noch gelebt. „Die Inuit essen die körperwarme Leber wegen der Vitamine, und sie erhoffen sich traditionell Stärke und Kraft“, lautet Harros Erklärung.
Selbst wenn man das mit der vitalisierenden Kraft und Stärke nicht so ernst nimmt, sind Vitamine ja eigentlich ein sehr schlagkräftiges Argument. Und dennoch: Deutlicher können kulturelle Unterschiede nicht hervortreten. Wir haben uns in unserem Kulturkreis so weit vom Prozess des Tieretötens und -verarbeitens entfernt, dass wir kaum noch gezwungen sind, das Steak im Supermarkt mit dem Rind auf der Weide in Verbindung zu setzen – und steigen bei der direkten Konfrontation mit Tod, Blut und Kadavern lieber aus. Mir wird klar, dass Harros Arbeit weniger mit dem Kick zu tun hat, Grenzen auszutesten, als mit einem respektvollen Umgang Bräuchen und Kulturen gegenüber, die uns fremd sind. „Wir sind viele Dinge einfach nicht mehr gewohnt, leben in einer Wohlstandsgesellschaft“, meint Harro selbst dazu. „Zum Beispiel werfen wir vieles, was eigentlich noch verwendbar wäre, einfach weg.In manchen Teilen der Welt konnte man es sich früher aber nicht leisten, zu sagen: ‚Den Kopf eines Tieres essen wir nicht, wir nehmen nur das Fleisch und machen einen schönen Braten daraus.‘ Dass man etwa Tieraugen verzehrt, ist aus einer historischen Notwendigkeit entstanden.“
Interessanterweise bringt die zunehmende Entfernung von einer archaischen Lebensform auch eine Verschiebung der Ekel-Zone mit sich. Eine evolutionäre Weiterentwicklung vom ehemaligen Körper-Schutzprogramm zum Maßstab dafür, ob wir uns in der Gemeinschaft korrekt verhalten. Denn Ekel entwickelte sich im Verlauf der Menschheitsgeschichte auch zu einer moralischen Größe. Schon allein die unmoralischen Ansichten eines Mitmenschen können bei uns Ekel hervorrufen.
Unsere Sprache macht den Zusammenhang sichtbar: Reinheit und Sauberkeit dienen uns als Bild für moralisch einwandfreies Verhalten, „schmutzig“ sind dementsprechend verwerfliche Handlungen oder Gedanken. Die „Hände schmutzig“ macht sich, wer zwielichtigen Geschäften nachgeht. „Ich wasche meine Hände in Unschuld!“, sagt Pontius Pilatus – und will sich damit von der Schuld an Jesu Verurteilung freisprechen. „Soll doch das Volk entscheiden, was mit dem Mann geschieht. Ich habe mit der Sache nichts zu tun.“ Dazu passt die Tatsache, dass es in vielen Religionen rituelle Waschungen gibt, mit denen die Gläubigen moralisch „rein“ werden. Ob bei symbolischen Reinigungen in heiligen Flüssen oder der christlichen Taufe, immer geht es darum, die Sünde oder Erbsünde abzuwaschen.
Dass das
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