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Extrem

Extrem

Titel: Extrem Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Goedde
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andere nur in wohldosierten Mengen zu sich nehmen. Ähnlich ist es mit der reinigenden Kraft der Stille: Die Dauerbeschallung des Ohrs ist für den Körper genauso anstrengend wie ständige Überernährung oder ein Marathonlauf, der nie zu einem Ende kommt. Auch zu viele Geräusche und Gedanken können uns „vergiften“. Wir brauchen die Stille der Nacht, und manchmal brauchen wir sie auch am Tag.
Auszeit
    Wer den Aspekt der Erholung und der Ruhe zu lange vernachlässigt, wird krank. Heute kennen wir das Phänomen als „Burnout-Syndrom“: Nach einer langen Phase der Hochleistung brechen Menschen plötzlich zusammen. Oft gehen damit ernsthafte körperliche Schäden einher, und die Betroffenen sind durch den Burnout völlig außer Gefecht gesetzt. Jedes Telefonat, jede Anfrage per E-Mail verursacht Herzrasen, Schweißausbrüche oder Heulanfälle. An Arbeit ist in diesem Zustand nicht mehr zu denken, und er hält oft monatelang an. Nicht wenige verlieren dabei ihren Job. Eine der ersten Maßnahmen in dieser akuten Notfallsituation ist eine starke Reduktion der Kommunikation. „Abschalten“ – sich vom Alltagsstress wirklich erholen bedeutet, sich von Computern und Telefonen fernzuhalten und mit einfachen, reizarmen Tätigkeiten zu begnügen: spazieren gehen, schlafen, vielleicht ein Buch lesen. Um es gar nicht erst zur Krise des Burnouts kommen zu lassen, beugen viele Menschen mit regelmäßigen Auszeiten vor, und sie nutzen dabei ein inzwischen breites Angebot an Rückzugsmöglichkeiten: Manager entspannen sich in Yoga-Seminaren oder buchen sogar eine Woche der Stille in einem Kloster. Manche bereisen die buddhistischen Tempel im Mittleren und Fernen Osten, nur um sich dort für ein paar Wochen in den strengen und stillen Alltag der Mönche einzufügen. Selbsterfahrungen der Lossagung von Segen und Fluch des Internets haben Konjunktur: In „Ich bin dann mal offline“ berichtet beispielsweise Christoph Koch, wie er eine Woche (nun ja, von Selbstkasteiung wollen wir hier mal nicht reden) ohne die Benutzung des Internets „überlebt“ hat. Noch länger hat es Alex Rühle ausgehalten, wovon er in seinem Buch „Ohne Netz. Mein halbes Jahr Offline“ erzählt.
Fenster zum Himmel
    Der Burnout ist als anerkannte Krankheit ein relativ junges Phänomen, ähnlich wie andere Krankheiten, die als besonders typisch für unsere Zeit gelten. Auch wenn es eine umstrittene Erscheinung ist und manche den Burnout nur für eine klangvollere Bezeichnung von Müdigkeit halten: Es ändert nichts daran, dass es gegen extreme, lang anhaltende Erschöpfung nur ein wirksames Mittel gibt – Stille. Ihre regenerative Wirkung lässt sich (bisher jedenfalls) mit keinem Medikament erreichen.
    So erstaunt es vielleicht nicht, dass das Bedürfnis, dem hektischen Treiben des Alltags zu entfliehen, eine lange Tradition hat. Urvater und Vorbild aller Einsiedler ist der heilige Antonius. Ungefähr zwischen dem Jahr 250 und 350 nach Christus soll er als junger Erwachsener in die ägyptische Wüste gezogen und dort fast 100 Jahre alt geworden sein – nach lebenslanger Abgewandtheit von der Welt. Seine radikale Regel lautete „Töte dich selbst ab“, und sie bezog sich auf alle körperlichen Bedürfnisse. Noch früher, vor mehr als 1500 Jahren, formulierte der Gautama Buddha für seine Anhänger, die buddhistischen Mönche, ein ähnliches Ziel: Das Leben auf der Welt ist leidvoll, solautet die Diagnose. Um diesem Leid zu entfliehen, gilt es dem Buddhismus zufolge, das „Ich“ in Form der eigenen Begierden, Wünsche und Gedanken völlig auszulöschen, um sich so im Nirwana, im „ewigen Nichts“ aufzulösen. Auch Buddhas Weg dorthin ist dem des Antonius nicht unähnlich: Er führt über ein strenges, einfaches Leben, in dem das Schweigen eine wichtige Rolle spielt.
    Denn die Meditationspraktiken verschiedener Religionen lassen sich durchaus vergleichen, auch wenn sie im Detail mit ganz unterschiedlichen Traditionen und konkreten Zielen verbunden sind. Katharina Deifel, Schwester im Konvent der Wiener Dominikanerinnen, beschreibt mir ihre Erfahrung des Schweigens so: „Man wird sehr ruhig – und manchmal schwindet auch das Zeitgefühl. Normalerweise empfinden wir die Zeit ja dadurch, dass wir jeweils einen Gedanken an den anderen reihen. Dieses endlose Denken hört irgendwann auf. Tief in der Kontemplation (= lateinisch: Versenkung, Anm. d. A.) ist man dann überrascht, dass schon eine halbe Stunde vorbei ist, weil das Zeitempfinden

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