Ezzes
glitt die Landschaft vorbei, die ihn wenige Stunden zuvor noch so gefangen genommen hatte. Er schickte einen letzten sehnsuchtsvollen Blick auf die majestätischen Wälder und gestand sich ein, er wäre gerne länger geblieben. Aber immerhin hatte er die Kviteks kennengelernt, und wer weiß, vielleicht würde er just durch sie Gelegenheit bekommen, diesen wunderbar magischen Ort öfter zu besuchen.
Doch seine Zufriedenheit wich mit jedem Kilometer, den er sich wieder Wien näherte. Die Kritik, welche die Kvitek an der herrschenden Staatsform geübt hatte, kam ihm wieder in den Sinn, und vieles, so fand er, hatte in ihrer Argumentation Hand und Fuß gehabt. Vor allem war sie nicht die erste gewesen, die sich despektierlich über das System äußerte. Seit Tagen war er mit einer Mischung aus Resignation und Wut konfrontiert, wenn die Sprache auf den Staat kam, und er fand das mehr als merkwürdig. Hatten die Leute vergessen, wie es seinerzeit inder Monarchie gewesen war? Die unbeschreiblichen Wohnverhältnisse in Wien? Die Bettgeher, die Aftermieter? Hatten sie vergessen, dass es damals keine Gesundheitsversorgung, keine Pension und schon gar keinen Urlaub gegeben hatte? Seit dem Krieg waren gerade einmal acht Jahre und ein paar Monate vergangen, wie konnte man da glauben, dass gleich alles perfekt sein könnte? Nein, er, Bronstein, glaubte den amtierenden Politikern, dass sie das Bestmögliche für die Bevölkerung wünschten und danach handelten.
Aber hatte er das seinerzeit nicht auch vom Kaiser geglaubt? Und mochte es nicht stimmen, dass der Staat etwas, das er gegeben hatte, jederzeit wieder wegnehmen konnte? Vielleicht lag die Kvitek ja doch nicht so falsch, wenn sie meinte, die Politik würde alle Reformen bei Gelegenheit wieder zurücknehmen, immerhin war dies in anderen Staaten wie in Polen oder Italien schon geschehen. Sicher, in Österreich würde derlei viel gemütlicher abgehen, Österreich war kein Land für eine Diktatur. Aber es war denkbar, dass die Regierung plötzlich eine Reform der Reform ausrief, die sich dann bei genauem Hinsehen als Revision der Verbesserungen entpuppte. In Wien stand derlei nicht zu befürchten, solange die Sozis das Sagen hatten. Aber im Bund? Man musste nur an die Sozialversicherung denken, die seit dem Vorjahr nur noch für sechs Monate galt, während es zuvor eine zeitlich unbegrenzte Überbrückung gegeben hatte. Die Regierung hatte damals, so erinnerte sich Bronstein, argumentiert, jeder, der arbeitswillig sei, finde innert eines halben Jahres eine neue Stelle, und wer nach sechs Monaten immer noch ohne Arbeit sei, der wolle gar nicht arbeiten, sondern nur der Gemeinschaft auf der Tasche liegen. Derzeit mochte eine solche Sichtweise ohne Zweifel ihre Berechtigung haben, was aber, wenn die Zeiten wieder schlechter wurden? Wirtschaftskrisen gab es allenthalben einmal, und wer würde dann jenen helfen, die unverschuldet in Not gerieten? Es warein Fortschritt gewesen, die soziale Fürsorge nicht irgendwelchen adeligen Damen und klösterlichen Suppenküchen zu überlassen, und so gesehen war die Revision des Gesetzes ein Rückschritt. Und sprachen nicht gerade die Schwarzen immer wieder davon, man müsse revolutionären Schutt wegräumen? Was konnte darunter verstanden werden, wenn nicht die soziale Besserstellung breiter Teile der Bevölkerung? Ihm als Polizisten standen solche Überlegungen eigentlich nicht zu, aber man konnte nicht übersehen, dass die Euphorie der frühen Jahre verflogen war und nun definitiv ein anderer Wind wehte. Die Vorfälle rund um Schattendorf bewiesen das doch: Da wurde nicht mehr an einem Strang gezogen, vielmehr standen sich Rote und Schwarze als erbitterte Gegner gegenüber, und jeder trachtete danach, dem anderen eins auszuwischen. Auf diese Weise würde man nie auf einen grünen Zweig kommen.
Bronstein musste nochmals an Kviteks Ausführungen zur Ausgangslage des Einzelnen denken. Es konnte bei genauerer Betrachtung kein Zweifel daran bestehen, dass jene, die aus einem so genannten guten Hause stammten, es immer besser hatten als jene, die von ganz unten kamen. Und daran hatte sich tatsächlich nichts geändert, an dieser Tatsache war das Jahr 1918 spurlos vorübergegangen. Tagtäglich war das auch in der Polizei zu bemerken. Wenn der Vater höherer Polizeioffizier war, dann wurde der Sohn automatisch besser behandelt. Und erst beim Heer. Seit der Minister mit dem roten General Körner Schluss gemacht hatte, feierten dort die Altadeligen
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