Ezzes
die Sessel auf die Tische zu stellen, wären die drei wohl bis zum Morgengrauen sitzen geblieben. So aber beglich man die Rechnung und schickte sich an, zu den Zimmern zurückzukehren. Im Flur verabschiedete man sich.
„Herr Kvitek, gnädiges Fräulein, ich habe diesen Abend über die Maßen genossen. Mehr Erholung kann man sich von einem Urlaub gar nicht wünschen. Sie haben mich überaus glücklich gemacht, kann ich sagen.“
„Die Freude“, antwortete Kvitek, „war ganz unsererseits. Wir hoffen doch sehr, dass wir uns wieder begegnen. Wissen Sie, Herr Bronstein, ich überlege sogar, mir hier in der Gegendein kleines Häuschen zu kaufen, und dann erwarte ich selbstverständlich, dass Sie uns die Ehre geben, dort unser Gast zu sein. Wir müssen unbedingt unsere Adressen austauschen.“
Mit einem festen Händedruck gingen die beiden Männer auseinander. Bronstein wandte sich der Tochter zu, ergriff ihre Hand, führte sie halben Wegs zu seinem Mund, während er sich gleichzeitig verbeugte. Ihm gelang ein formvollendeter Handkuss, dann sah er der jungen Frau tief in die Augen: „Ich bin immer noch beeindruckt von Ihrer Klugheit, Ihrer Redegewandtheit und von dem Feuer, das in Ihnen lodert. Sehen Sie zu, dass es nicht erlischt. Die Gesellschaft braucht Menschen wie Sie. Und offenbar die Demokratie ganz besonders.“ Dabei lächelte er ein wenig.
Die Kvitek sah zu Boden. „Das ist zu viel der Ehre. Aber auch ich habe unseren kleinen Disput sehr genossen. Ich werde mich bemühen, den in mich gesetzten Erwartungen zu entsprechen.“
„Davon, liebes gnädiges Fräulein, bin ich überzeugt. Ich darf Ihnen nun eine gute Nacht wünschen.“
„Das wünsche ich auch Ihnen, werter Herr. Und ich danke Ihnen für einen schönen Abend.“
Damit war die Kvitek entschwunden. Bronstein sah ihr noch eine kleine Weile nach, dann begab er sich zu seiner Zimmertür. Ein schöner Abend. Wie lange war es her, dass eine Frau sich bei ihm für einen „schönen Abend“ bedankt hatte. Noch dazu eine so kluge und so schöne? Mehr, so befand Bronstein resümierend, konnte man in seinem Alter von einer Sommerfrische kaum erwarten. Beinahe beschwingt entkleidete er sich und ließ sich übermütig in sein Bett fallen. Er war so jung und unbeschwert, dass er am nächsten Morgen glatt den Semmering erklimmen konnte. In dieser euphorischen Stimmung sank er alsbald in tiefen und erholsamen Schlaf.
VI. Dienstag, 12. Juli 1927
Wiewohl er wusste, dass er am Abend dieses Tages wieder nach Wien würde fahren müssen, beschloss Bronstein, noch einmal die ganze Schönheit der Semmeringregion zu genießen. Er war in ausgesucht guter Stimmung, was er nicht zuletzt dem Vorabend zuschrieb. Gleich nach dem Frühstück machte er sich auf den Weg. In der Küche des Restaurants hatte er sich eine Wegzehrung einpacken lassen, und so schritt er mutig aus und war bereits nach wenigen Metern wieder im Wald.
Er folgte dem Lauf eines frischen Waldwassers, das so klar wie flüssiges Glas unter einem nassgrünen Erlengebüsch hervorschoss. Der Verlauf des Baches folgte einem gewundenen Tal, das links und rechts von Hangleiten begrenzt war. Die Abhänge prangten mit Matten von Bergkräutern und Wiesenblumen, und nur hie und da war durch eine Markierung eine Spur menschlicher Zivilisation zu erkennen. Bronstein atmete die jungfräuliche Frische der Bergluft und spürte, wie sich sein Herz den Schönheiten der unberührten Natur öffnete. Links des Baches standen vereinzelt Bäume, zwischen denen sich der grüne Rasen wie ein reines Tuch dahinzog, einem Teppich gleich, während rechter Hand die Bäume hoch in den Himmel schossen. Der Waldboden schien so rein, dass man meinen mochte, seit seinem Anbeginn habe ihn kein Fuß berührt, es sei denn der leichte Tritt eines Rehs, wenn es den Bach zur Tränke aufsuchte.
Mit einem Mal kam sich Bronstein wie ein Eindringling vor. Die Waldblumen merkten auf, das Eichhörnchen hielt auf seinem Buchenast inne, die Tagfalter schwebten seitwärts, unddie Zweiggewölbe schienen sich vor dem herannahenden Wanderer zu ducken. Und Bronstein schritt immer sorgsamer aus, so als sei er darum bemüht, kein Kräutlein zu zerquetschen und den Moosgrund nicht zu verwunden.
Immer entlang dem Waldbach, seinen Windungen und Biegungen folgend, hielt Bronstein auf den Gipfel zu. Er wich den tiefer hängenden Ästen und dem dichteren Stand der Bäume aus, und registrierte dabei, wie die Laubbäume allmählich seltener wurden und die Tannen
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