F44.3 - In den Augen das Blut
alles gehört. Lukas Schreie, Jans Schreie und ihre eigenen. Es klingelte erneut und mit dem Telefonhörer in der Hand schritt sie zur Tür. Jemand klopfte dagegen. Es würde sowieso herauskommen, dachte sie, die Zeitungen würden voll davon sein. Vielleicht konnten ihre Nachbarn helfen. Wobei auch immer. Für alles war es zu spät.
Als es ein drittes Mal klingelte, hatte Susanne ihre Hand auf der Klinke, den Schlüssel gedreht, und öffnete.
Erstarrt und entsetzt blickte sie in die Gesichter von unzähligen Kindern, die sich im Treppenhaus versammelt hatten. Jedes trug denselben apathischen Ausdruck wie ihr eigener Sohn. Ganz vorne, direkt vor ihr stand ein Mädchen mit blonden Zöpfen, das anscheinend geklingelt hatte. Es grinste und es war der hässlichste Anblick, den Susanne je zu Gesicht bekommen hatte.
„Wir wollen Luka abholen“, sagte es.
Susanne wollte die Tür zuknallen oder den Kindern in die Fresse schlagen. Aber ihre Furcht ließ sie erstarren. Was ging hier vor?
„Ich habe dir doch gesagt, wir sind Legion, Mutter“, hörte sie eine vertraute doch tiefere Stimme hinter sich. Wie war er aus dem Kinderzimmer entkommen? Wie ging es Jan? Warum hat mich die Macht losgelassen, wenn ich jetzt in der Falle saß?
Doch jede Suche nach Antworten wurde durch Schmerzen ersetzt, als ihr Sohn begann, auf ihren Rücken einzustechen. Die Kinder vor der Tür grinsten.
Irgendwann – Nirgendwo
Sein Freund hatte gelogen. Luka rannte durch die Straßenschluchten auf der Flucht vor den Flammen. Mit ihm waren unzählige Kinder, vor Furcht zernagte Gesichter. Sie waren Legion und kein Held in ihrer Nähe, der sie fort trug.
ENDE
Der Wunschzettel
Es war Dezember und im Radio lief die meiste Zeit Weihnachtsmusik. Die Menschen sollten in die richtige Stimmung versetzt werden bis zum großen Tag, dem heiligen Abend, an dem Familien und Freunde zusammenkamen und Kinderherzen höher schlugen. Wie jedes Jahr wirkte die Atmosphäre auch auf Linda, die Musik und die Dekorationen in den Läden. Jeder schien in heißer Erwartung plötzlich ein besserer Mensch geworden zu sein. Jedenfalls kam es ihr so vor und diese Illusion wollte sie sich von niemandem zerstören lassen.
Weihnachten war ein Fest der Liebe und der Geschenke. Linda und ihr Mann Harald sorgten schon seit einigen Jahren dafür, dass ihre Tochter Sina es in allen Belangen genießen konnte. Zu dieser Zeit des Jahres sollte es ihr an nichts mangeln, nicht wie die elf Monate davor, wenn sie Geld sparen mussten und Sina das gewünschte Fahrrad nicht schenken konnten, oder ein neues Puppenhaus. Auch wenn sie nicht viel hatten, sie sparten stets auf dieses Fest. Und beschenkten sich gegenseitig mit wertvolleren Gegenständen, die sonst nur auf den Namen Luxus hörten. Luxus, den sie sich nicht leisten konnten.
Linda liebte Sinas große Kinderaugen, die sie fragend und euphorisch anschauten, wenn es um den Weihnachtsmann ging. Und sie war bereit, jede Frage über ihn zu beantworten. Wie kommt er in unsere Wohnung, wenn wir keinen Kamin haben? oder Darf ich wenigstens seine Rentiere sehen? Und die Fragen hörten nie auf. Sinas kindliche Phantasie hatte Lindas Gefühle zu Weihnachten noch verstärkt. Darum kam es ihr so fremd vor, dass ihre Tochter dieses Jahr nicht mehr auf ihn zu sprechen kam.
Hatte ihre Tochter vielleicht erfahren, dass der Weihnachtsmann nicht existierte? Aber nein, Sina war erst sechs Jahre alt und alle in ihrer Gruppe malten weiterhin Bilder vom fetten Mann, der im roten Mantel und mit weißem Rauschebart durch Kamine plumpste. War es vielleicht ein Spiel? Wollte Sina testen, ob ihre Mutter noch an den Weihnachtsmann glaubte? Das war es vielleicht. Wie die Gedanken eines Kindes funktionierten, blieb den Erwachsenen oft verborgen.
So freute sich Linda, ihre Tochter am Schreibtisch zu sehen. Sie wusste, was das bedeutete. Schon im letztem Jahr hatte Sina das Schreiben erlernt und einen Wunschzettel an den Weihnachtsmann angefertigt. In Großbuchstaben hatte dort BABYPUPPE gestanden, und HAARBÜRSTE, KANNINCHEN und KLEID, und Linda und Harald waren so glücklich und stolz gewesen. Wie intelligent sie doch war. Und weit für ihr Alter.
Sie wollte ihre Tochter nicht unterbrechen, wartete im Türrahmen, bis Sina den Stift absetzte und aus dem Fenster schaute, wahrscheinlich, um zu überlegen, ob sie etwas vergessen hatte.
„Was schreibst du da, Schatz?“, fragte Linda, obwohl sie es so genau wusste. Sie konnte sich ein Lächeln
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