Fabelheim: Roman (German Edition)
sich auf telepathische Weise mit ihr in Verbindung gesetzt hatte, vertraute Kendra ihrem ersten Gedanken. Die Milch musste also die von Viola sein. Und das Blut? Ihr eigenes? Das der Kuh? Um auf der sicheren Seite zu sein, würde sie wahrscheinlich beides benötigen. Aber zuerst die Milch.
Kendra stellte die Silberschale in eine geschützte Ecke und holte eine der Leitern herbei. Sie wollte nur ein paar Spritzer holen. Um die Kuh richtig zu melken, blieb ihr keine Zeit. Kendra hatte noch nie versucht, Violas Milch aufzufangen. Sie und Seth hatten lediglich den Druck im Euter gelindert und alles auf den Boden fließen lassen. Es gab reichlich Fässer, aber die Vorstellung, ein Fass in eine kleine Silberschale zu leeren, kam ihr ziemlich heikel vor. Außerdem musste sie an der Zitze entlangrutschen,
um Milch herauszubekommen, und sie hatte die Befürchtung, dass sie selbst in das Fass fallen würde.
Sie fand eine große Keksdose von der Art, wie Dale sie in den Garten gestellt hatte. Perfekt. Klein genug, um ihr auszuweichen, aber groß genug, um genug Milch aufzufangen. Sie schob die Dose unter die Zitze und versuchte abzuschätzen, wohin die Milch spritzen würde.
Kendra kletterte auf die Leiter und sprang. Sie umarmte die fleischige Zitze, und die Milch strömte heraus. Nur wenig davon spritzte in die Dose. Sie verschob die Dose, kletterte wieder auf die Leiter und versuchte es noch einmal. Diesmal erzielte sie einen Volltreffer. Die Dose war fast randvoll, und es gelang ihr sogar, auf den Füßen zu landen.
Kendra trug die Dose zu der Silberschale hinüber. Sie schüttete Milch hinein, bis die Schale zu drei vierteln gefüllt war. Jetzt blieb nur noch das Blut.
Viola muhte donnernd. Anscheinend regte sie sich darüber auf, dass das Melken so kurz, nachdem es begonnen hatte, schon wieder aufhörte. »Du wirst gleich noch lauter muhen«, murmelte Kendra leise.
Wie viel Blut würde sie brauchen? Die Feenkönigin hatte nichts über Mengen gesagt. Kendra durchsuchte die Schränke nach Werkzeugen. Schließlich fand sie eine Unkrauthacke und eine weitere Keksdose. Es konnte ganz schön eklig werden, genug Blut zu bekommen, um es von der Dose in die Schale umschütten zu können.
»Viola!«, rief Kendra. »Ich weiß nicht, ob du mich verstehen kannst. Ich brauche ein bisschen von deinem Blut, um Fabelheim zu retten. Es könnte ein wenig weh tun, also versuch, tapfer zu sein.«
Es war nicht zu erkennen, ob die Kuh sie verstanden hatte. Kendra ging zu der Zitze zurück, die sie gemolken
hatte. Es war der einzige Bereich am Körper der Kuh, der nicht von Fell geschützt war, daher vermutete sie, dass es die beste Stelle sein würde, um ein wenig Blut abzuzapfen.
Sie stieg die Leiter nur wenige Stufen hinauf, denn sie wollte möglichst weit unten in die Zitze stechen, damit das Blut auch in die Dose floss. Wenn sie ein Messer gefunden hätte, hätte sie versucht, einen Schnitt zu machen. Das einzig Scharfe an der Unkrauthacke waren die Zacken am Ende, also würde sie sich mit einer Stichwunde begnügen müssen.
Sie musste fest zustoßen, weil die Zitzen so elastisch waren. Bei einem Tier von dieser Größe würde die Haut ziemlich dick sein. Sie sagte sich, dass es für die riesige Kuh nicht mehr als ein kleiner Stich war. Aber würde Kendra wollen, dass jemand einen Dorn in ihr Fleisch rammte? Die Kuh würde sich wahrscheinlich aufregen.
Kendra hob die Hacke, während sie in der anderen Hand die Keksdose hielt. »Tut mir leid, Viola!«, rief sie und stieß die Spitze in das schwammige Fleisch. Das Werkzeug versank fast bis zum Griff, und Viola stieß ein erschrockenes Gebrüll aus.
Die schwere Zitze schwang hin und her und warf Kendra samt Leiter um. Sie hielt die Hacke fest und zog sie im Fallen aus der Zitze heraus.
Viola machte einen Schritt zur Seite, warf den Kopf zurück und brüllte wieder. Die Scheune erzitterte, und Kendra hörte Balken splittern. Das Dach knarrte, die Wände wankten und knackten. Kendra hielt sich schützend die Arme über den Kopf. Viola stampfte mit ihren gigantischen Hufen auf den Boden und ließ ein langes, schmerzerfülltes Muhen hören. Dann beruhigte sich die Kuh wieder.
Kendra blickte auf. Von oben schwebte Staub und Heu herab. Und aus der Zitze strömte Blut und tropfte bereits in die Dose.
Da Viola sich beruhigt hatte und das Blut reichlich strömte, warf Kendra die Keksdose beiseite und holte die Silberschale. Sie stellte sich unter die Zitze und fing die Blutstropfen auf.
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