Fabelheim: Roman (German Edition)
Sie langweilten sich.
Als sie diese Technik zum achten Mal anwandte, verloren die Najaden anscheinend endgültig das Interesse. Die Insel kam näher. Zwanzig Meter. Zehn Meter. Kendra wartete darauf, dass die Najaden sie im letzten Augenblick aufhalten würden, doch sie taten es nicht. Der Bug ihres Bootes schrammte ans Ufer. Alles blieb still.
Der Augenblick der Wahrheit war gekommen. Es gab zwei Möglichkeiten: Entweder würde sie sich in eine Wolke Löwenzahnsamen verwandeln, sobald sie einen Fuß auf die Insel setzte, und davonwehen, oder eben nicht.
Inzwischen war es ihr beinahe gleichgültig, und sie sprang einfach ans Ufer. Es schien nichts Magisches oder
sonst irgendwie Besonderes zu geschehen, und sie wurde auch nicht verwandelt.
Allerdings ertönte hinter ihr schallendes Gelächter. Kendra drehte sich gerade noch rechtzeitig um, um ihr Tretboot von der Insel wegtreiben zu sehen. Es war bereits zu spät, um etwas zu unternehmen, ohne ins Wasser zu springen. Sie schlug sich mit dem Handballen auf die Stirn. Die Najaden hatten nicht aufgegeben – sie hatten nur ihre Strategie geändert! Die Aussicht darauf, in Löwenzahnsamen verwandelt zu werden, hatte sie dermaßen abgelenkt, dass sie das Boot nicht aus dem Wasser gezogen hatte. Sie hätte zumindest das Seil festhalten können!
Nun, ein weiterer Gefallen, um den sie die Feenkönigin bitten musste.
Die Insel war nicht groß. Kendra brauchte nur etwa siebzig Schritte, um sie zu umrunden. Der Schrein stand wahrscheinlich irgendwo in der Mitte.
Es gab keine Bäume auf der Insel, aber es wuchsen viele Sträucher, manche davon größer als Kendra. Es gab auch keine Pfade, und es war mühsam, sich durch die Büsche zu zwängen. Wie würde der Schrein aussehen? Sie stellte sich ein kleines Gebäude vor, aber nachdem sie die Insel einige Male abgesucht hatte, musste sie feststellen, dass es kein derartiges Gebäude gab.
Vielleicht war sie nur deshalb nicht in Löwenzahnsamen verwandelt worden, weil die Geschichte über die Insel nur ein übler Scherz war? Oder vielleicht war der Schrein nicht mehr hier. So oder so, sie saß auf einer winzigen Insel fest in der Mitte eines Sees voller Geschöpfe, die sie ertränken wollten. Wie sich Ertrinken wohl anfühlte? Würde sie tatsächlich Wasser einatmen oder einfach ohnmächtig werden? Oder würde der Dämon sie vorher holen?
Nein! Sie war schon so weit gekommen. Sie würde noch einmal suchen, und diesmal noch gründlicher. Vielleicht war der Schrein etwas Natürliches, ein besonderer Busch oder ein Baumstumpf.
Sie schritt noch einmal langsam den äußeren Rand der Insel ab. Sie bemerkte ein dünnes Rinnsal. Es war eigenartig, auf einer so winzigen Insel einen Bach zu finden, wie klein er auch sein mochte. Sie folgte dem Bach zur Mitte der Insel, bis sie die Stelle fand, an der er aus der Erde sprudelte.
Dort, an der Quelle, stand eine fünf Zentimeter hohe, schön geschnitzte Feenstatue. Sie ruhte auf einem weißen Sockel, der sie noch ein paar Zentimeter größer machte. Davor stand eine kleine Silberschale.
Natürlich! Feen waren so winzig, dass es nur schlüssig war, wenn der Schrein ebenso klein war!
Kendra ließ sich neben der Quelle direkt vor der kleinen Figur auf die Knie fallen. Alles war vollkommen still. Als sie zum Himmel aufblickte, sah sie, dass der östliche Horizont sich bereits purpurn färbte. Die Nacht näherte sich ihrem Ende.
Kendra fiel nichts anderes ein, als mit größter Aufrichtigkeit ihr Herz auszuschütten. »Hallo, Feenkönigin. Danke, dass du mich hast herkommen lassen, ohne mich in Löwenzahnsamen zu verwandeln.«
Kendra schluckte. Es war irgendwie seltsam, zu einer winzigen Statue zu sprechen. Es hatte so gar nichts Magisches an sich. »Wenn du mir helfen kannst, bitte tu es, ich brauche deine Hilfe wirklich. Eine Hexe namens Muriel will einen Dämon namens Bahumat freilassen. Die Hexe hält meine Großeltern gefangen, Opa und Oma Sørensen, außerdem meinen Bruder Seth und meine Freundin Lena. Wenn dieser Dämon freikommt, wird er das ganze Reservat
in Schutt und Asche legen, und ohne deine Hilfe kann ich das auf keinen Fall verhindern. Bitte, ich liebe meine Familie, und wenn ich nichts unternehme, wird dieser Dämon, er wird...«
Die Realität dessen, was sie sagte, traf sie wie ein Hammerschlag, und Tränen quollen aus ihren Augen. Zum ersten Mal wurde ihr die Tatsache, dass Seth sterben würde, vollauf bewusst. Sie dachte an all die Erlebnisse mit ihm, schöne wie
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