Fächergrün
wird«, sagte Lindt und schwenkte die Gefriertüte. »Dieses Mal keine Leichenteile, sondern etwas sehr Lebendiges.« Er zog sich wieder Handschuhe an und legte Umschlag, Blatt und Streichholzschachtel von Willms auf die Edelstahlarbeitsplatte des Labortisches. Daraufhin nahm er die kleine Box, öffnete einen winzigen Spalt und streckte sie dem KTU-Chef ruckartig hin. Das Summen klang auf einmal noch lauter und richtig bösartig. Zwei lange Fühler tasteten sich aus dem Spalt, für den Rest reichte der Platz nicht.
Willms schreckte zurück. »Was soll das für’n Vieh sein, da drin?«
Paul Wellmann war nicht so zimperlich und nahm seinem Kollegen die Schachtel aus der Hand. »Hol mal die Glasflasche da drüben, ja, die mit den schrägen Seiten und der kleinen Öffnung.«
»Das nennt sich Erlenmeyerkolben«, schulmeisterte Willms und griff sich das Teil.
Wellmann hielt die geschlossene Streichholzschachtel vor das Loch und nickte zufrieden. »Passt. So, jetzt dreh ihn um, deinen Kolben. Öffnung nach unten.«
»Was hast du vor?«
»Abwarten. Vor allem gut festhalten und nicht erschrecken.«
Willms stellte den Glasbehälter auf den Kopf und fasste ihn mit beiden Händen.
Extrem vorsichtig hielt Wellmann die Streichholzschachtel an die Öffnung und schob sie Millimeter für Millimeter auf. Erst tauchten wieder die Fühler auf, dann der gelbe Kopfschild mit den kräftigen Beißwerkzeugen und schließlich zwängte sich das ganze Insekt samt seinem gelb-braun gestreiften Hinterleib nach draußen und blieb auf dem Rand der Schachtel sitzen.
»Voilà, gestatten, Calabrone. Muss sich erst an die Helligkeit gewöhnen«, sagte Paul und schnippte mit dem Zeigefinger gegen den Karton. Wie eine kleine Propellermaschine brummte die Hornisse nach oben in den umgedrehten Glaskolben hinein. Blitzartig hielt Wellmann die Schachtel über die Öffnung. »So, jetzt einen Korken.«
Willms reichte ihm einen geschliffenen Glasstöpsel, in den eine kleine Röhre eingelassen war. »Mit Luftloch, bitte sehr.«
Schachtel weg, Stöpsel rein. Die beiden Kriminalbeamten waren flinker als das Insekt.
»Uff«, atmete der KTU-Chef auf, doch Wellmann meinte bloß: »Sticht nur, wenn sie sich bedroht fühlt.«
»Trotzdem will ich sie nicht hier in meinem Labor fliegen lassen.«
»Untersuchen musst du sie aber später schon noch.«
»Bestimmt nicht lebendig. Etwas Äther durch das Röhrchen und die Sache ist erledigt.«
»Zuerst brauchen wir sie lebendig«, verkündete Oskar Lindt und griff sich einen leeren Karton, der auf dem Boden stand. »Gegenüberstellung«, sagte er, packte den Erlenmeyerkolben samt Inhalt hinein und stülpte den Deckel auf die Schachtel. »Dauert nicht lange. In der Zwischenzeit kannst du dir ja den Umschlag und diese Parole dort vornehmen: ›Lass die Toten ruhen!!!‹«
Lindt trug den weißen Pappkarton vor sich her und strebte mit Paul Wellmann zusammen schnurstracks wieder das Verhörzimmer an. Hier saß nach wie vor Giuseppe Gallo, geduldig und in sein Schicksal ergeben, unbeweglich auf dem Stuhl. Ein leerer Kaffeebecher und eine Halbliterflasche Mineralwasser auf dem Tisch zeigten, dass Jan Sternberg sich um ihn gekümmert hatte.
»Bitte entschuldigen Sie die Unterbrechung«, begann Lindt. »Wir wurden zu einem dringenden Fall gerufen. Wir haben ihn gleich mitgebracht.« Ohne zu zögern, öffnete der Kommissar die Schachtel und stellte das Glasgefäß direkt vor Gallo auf den Tisch. Der kniff die Augen zusammen, fischte seine Brille aus der Hemdtasche und betrachtete das Insekt völlig emotionslos.
»Da drin krabbelt eine Biene«, sagte er schließlich. »Was hab ich damit zu tun?«
»Bisschen groß, diese Biene, finden Sie nicht?«
Gallo betrachtete das Tier nochmals intensiver. »Keine Biene? Dann eben Vespa , oder wie sagt man auf deutsch?«
»Wespe«, antwortete Paul Wellmann. »Schon eher, aber leider wieder falsch. Das ist eine Hornisse, wie sagt man auf italienisch?«
» Calabrone! « Lindt spie das Wort regelrecht aus.
»Das da? Niemals«, widersprach Giuseppe Gallo erregt. » Calabrone ist sehr gefährlich, sehr giftig, muss viel größer sein als das da.«
»Haben Sie mal eine gesehen?«
»Äh, nein, noch nie, aber alle sagen doch …«
»Diese Hornisse ist nicht so gefährlich, aber Sie kennen eine andere Calabrone. Eine, die blitzschnell mit dem Stilett ins Herz sticht.«
Pokerface oder echte Unwissenheit? Lindt betrachtete das völlig entspannte Gesicht seines
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