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Fahr zur Hölle Mister B.

Fahr zur Hölle Mister B.

Titel: Fahr zur Hölle Mister B. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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kann es nicht glauben. Nach all den Jahren. All den Stürmen. Dem vielen Schnee auf seinen Ästen. Jetzt hat er wohl genug. Seine Wurzeln werden aus dem Boden gerissen. Oh, herrjemine, warum unternimmt denn niemand etwas, bevor er das Haus trifft?
    Oh, natürlich. Es ist niemand da. Das Haus steht leer. Niemand beschützt es.
    Mann, es ist ein Jammer! Sehen Sie nur, der Baum fällt und fällt und –
    Das war die Hauswand; sie ist aufgebrochen wie eine Eierschale unter dem Hammer. Wie tragisch. Etwas so Schönes sollte nicht so sterben. Allein und ungeliebt. Oh, jetzt ist das Dach hinüber. Die Äste sind so schwer, so uralt und schwer, und jetzt stürzt das ganze Haus ein, weil der Baum darauf fällt. Jede Mauer, jedes Fenster, jede Tür. Ich sehe vor lauter Staub kaum noch etwas.
    Ah, ja. Es hat keinen Sinn mehr, hinzusehen. Jetzt ist es weg.
    Wie ich schon sagte: Ein einmaliges Angebot, wie man es im Leben nie wieder bekommt. Was man von uns allen sagen könnte, wenn man sentimental wäre. Was ich nicht bin.
    Egal, jetzt ist es weg. Und ich habe nichts mehr in der Hinterhand, um Sie zu bestechen. Von jetzt an heißt es Tränen oder gar nichts, fürchte ich.
    Und nur darüber kann ich Ihnen noch berichten: Tränen, Tränen, Tränen.
    Als ich die Metzgerei verließ, wies der Himmel eine seltsame Färbung auf. Es wirkte, als hätte man das Nordlicht gepackt und nach Süden gezogen, bis es über dieser verdreckten kleinen Stadt hing wie die Verheißung von etwas Größerem, das bevorstand.
    Der Anblick war mir zuwider. Als ob ich Ihnen das sagen müsste; inzwischen kennen Sie mich ja gut genug. Natürlich war mir die Schönheit zuwider; aber noch mehr das Verklärte daran. Aus dem Grund wollte ich den nächsten Kirchturm hinaufklettern und das Leuchten herunterreißen. Doch dafür hatte ich keine Zeit. Ich musste Quitoon finden und ihm zeigen, was aus mir geworden war, seit ich mich in der Gegenwart von Engeln aufgehalten hatte, statt vor ihnen zu fliehen, so wie er. Das Genie der Grausamkeit und der Zorn Gottes waren jetzt in mir; ich war eine Brutstätte für alle Fliegen geworden, deren Nachkommen Lust auf Zerstörung und Verwesung verspürten. Mein Schädel war eine Maske, die Skorpione verbarg; meine Exkremente waren Schlangen und das Gift von Schlangen; in der Luft, durch die ich schritt, glommen Funken der Tollwut.
    Er sollte sehen, was aus mir geworden war. Er sollte wissen, was auch immer er mir früher bedeutet hatte, ich hatte das gnadenlose Fleisch dieser Liebe aus mir herausgerissen – falls es sich denn darum handelte – und es den wilden Kindern von Mainz zum Fraß vorgeworfen.
    Es fiel mir nicht schwer, ihm zu folgen. Ich nahm die geheimen Zeichen der Welt wahr wie noch niemals zuvor. Mir schien, als könnte ich seinen Phantomumriss vor mir durch die Straßen wandeln sehen, wobei er fortdauernd Blicke über die Schulter zurückwarf, als fürchte er, die Engel verfolgten ihn.
    Aber offenbar ließ seine Angst nach einer gewissen Zeit nach. Er rannte nicht mehr, sondern schleppte sich stolpernd weiter und blieb am Ende stehen, um Luft zu holen. Da verabschiedete ich mich von ihm; ich brauchte sein Phantombild nicht mehr als Leitstern. Ich kannte den Weg.
    Genau wie andere, viele andere, die sich allesamt dem Ort näherten, wohin mich meine Instinkte führten. Ich sah sie ab und zu kurz in dem Gedränge der Menschenmassen. Manche zogen Schwärme schwarzer Bienen aus den Stöcken auf ihren Köpfen hinter sich her; manche waren schamlos nackt, als wollten sie die rechtschaffenen, verängstigten Bürger von Mainz zu dem Eingeständnis provozieren, dass sie sie sahen. Andere bewegten sich auf wesentlich seltsamere Weise durch die Fußwege. Lichter schwebten tief unter den schlammigen Straßen dahin, und in den Wänden der Häuser rechts und links von mir huschten halb unsichtbar andere Wesenheiten dahin, die mal bis zu den Dachfirsten hinaufschossen und im nächsten Moment wieder zur Straße heruntersanken. Ich sah Reisende, deren Knochen unter wallenden Wülsten durchsichtigen Fleisches leuchteten. Ich sah Geschöpfe ohne Köpfe und Gliedmaßen, die auf dem Weg zu dem unbekannten Ziel, das uns alle anlockte, durch Ziegelsteine und Holzbalken flogen. Man konnte unmöglich abschätzen, welchen Stämmen oder Verwandtschaftsbeziehungen sie angehörten. In den Kreisen der Hölle hatte ich ihresgleichen nie gesehen, doch das wollte nicht viel heißen, da ich dort nicht besonders viel herumgekommen war. Vielleicht

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