Fahrtenbuch - Roman Eines Autos
fuchtelte, und nachdem Marie Bergsson die Tschetschenien-Meldung irgendwie zu einem Ende gebracht hatte, drehte man ihr das Mikrofon ab und spielte die übliche Erkennungsmelodie ein, euer Hauptstadtradio / immer fünf vor / für euch / das Neueste / aus / aller Welt . Die Zusammenarbeit mit Marie Bergsson wurde beendet.
Sie hatte einen Freund damals. Er war vierundvierzig, trug einen grauen Kapuzenpullover unter seinem Sakko und hieß Robert Scharnov. Sie hatte ihn bei einem Essen kennengelernt. Irgendetwas hatte sie gerührt an seinen Bemühungen um sie – vielleicht war es bloß die Tatsache, dass er ganz offenbar sein etwas heruntergekommenes Aussehen durch außerordentliche Liebenswürdigkeit und Großzügigkeit wettmachen wollte. Er hatte Biologie, Physik und Philosophie studiert und arbeitete jetzt in einer Agentur, von der er auch bei hartnäckigen Nachfragen nicht sagen konnte, was man dort tat – es ging um Konzepte aller Art, globale Strategien, Marktforschung, Kommunikationsdesign und Grafik. Als er nach Berlin kam, hatte er sich eine seltsame, nach vorn gebürstete Frisur schneiden lassen, die aussah, als begleite ihn ein von hinten blasender Miniaturtaifun; er hörte Musik von Kruder & Dorfmeister und stattete seine Wohnung mit Plastikmöbeln aus, die er auf der Alten Schönhauser Straße in einem Laden fürDDR-Designklassiker kaufte. Bei den ostdeutschen Nachbarn galt er deswegen als merkwürdig – »alles aus Plaste«, hatte die Nachbarin verblüfft gerufen, als sie einmal einen Blick durch seine offene Wohnungstür warf, »dabei verdient der junge Mann doch Geld.« Über seinem Schreibtisch hing eine Zeichnung von M. C. Escher, ein Kippbild, das »Relativität« hieß. Auf der Zeichnung stiegen Menschen unmögliche Treppen hinauf, und als Bergsson ihn fragte, was ihm daran gefalle, antwortete er, die Schönheit eines formalen Systems, das auf innere Widerspruchsfreiheit verzichtet, so sagte er es, darum gehe es seiner Ansicht nach in der Kunst.
Als Bergsson ihn kennenlernte, trug er eine gelbe Freitag-Tasche über der Schulter wie ein New Yorker Fahrradkurier. Der Trageriemen erinnerte an einen Sicherheitsgurt, und er trug ihn quer über der Brust, so, als befürchtete er, sein Leben könne jeden Moment gegen eine Wand fahren; er schnallte sich sogar beim Gehen an.
Immerhin verdiente er Geld. Er entwickelte Grafikkonzepte für Konzeptagenturen, die nicht im Grafikbereich tätig waren; er traf in den zahllosen neuen Restaurants andere Agenturmenschen mit dicken schwarzen Brillen und Miniaturtaifunfrisuren und erklärte ihnen alle möglichen Dinge, und sie nickten und hinterließen Kaffeeränder auf den Grafikkonzeptunterlagen. In der Agentur arbeiteten immer mehr blasse junge Männer mit seltsamen Bärten, von denen niemand sagen konnte, was sie den ganzen Tag taten.
Robert investierte viel Geld in ein Unternehmen, das ein alter Freund gegründet hatte. Der Freund war mit großem Erfolg als Risikofinanzierer an die Börse gegangen, und Robert bekam als erste Ausschüttung eine erstaunliche Summe überwiesen. Er ließ seinen Flur in Orange streichen und kaufte weitere orangefarbene Möbel. Manchmal kamen die Männer mit den schwarzen Brillen zu Robert und ließen sich in die Plastikstühle fallen, legten Platten von New Order auf und schütteten, die unpraktische Farbe des Tischs beklagend, den Inhalt kleiner Plastikbeutel auf die weiße Plastikplatte. So hatte Roberts Leben in Berlin bislang ausgesehen: eine dicke schwarze Brille, ein Kaffeerandauf den Konzeptunterlagen und ein Hundertmarkschein im rechten Nasenloch.
Dann, kurz nach Beginn des neuen Jahrtausends, brach der Neue Markt zusammen. Als erstes machte die Konzeptagentur dicht, offenbar brauchte niemand mehr Konzepte. Dann bekam Robert einen Brief von der Firma seines Freundes. Man teilte ihm mit, dass die neuen Technologien auf längere Sicht gewiss weiterhin überdurchschnittliche Renditen erbrächten, angesichts der desolaten Kapitalmärkte und der Entwicklung des Neuen Marktes sei jedoch der Börsenwert des Unternehmens auf etwa zweihunderttausend Mark gesunken. Man sei noch Anfang 2000 von einer gesunden Seitwärtsbewegung der Märkte und einer stetigen Aufnahmebereitschaft für Initial Public Offerings ausgegangen, das habe sich aber leider nicht bewahrheitet. Statt der erwarteten zehn Millionen Mark Ertrag aus dem Börsengang der Dumboo Media habe man, da diese nicht wie geplant an die Börse, sondern in die
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