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Fahrtenbuch - Roman Eines Autos

Fahrtenbuch - Roman Eines Autos

Titel: Fahrtenbuch - Roman Eines Autos Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Niklas Maak
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Grundfragen im konkreten Alltagsleben auszuloten«. Als in den kommenden Wochen die Kunden der Supermarktkette anriefen, weil sie irgendetwas über Staubsauger oder Farbstoffe in Keksen wissen wollten, bat er sie, ihnen noch eine persönliche Frage stellen zu dürfen. Die meisten Kunden waren neugierig, und Robert Scharnov verwickelte sie in Gespräche über Ängste, Hoffnungen und große, letzte Fragen, die oft eine halbe Stunde dauerten und die Warteschleife des Supermarkt-Callcenters zur Endlosschleife werden ließen. Bald hatte er zwei Studentinnen, die wie er im Callcenter arbeiteten, gewonnen, an seinem Projekt teilzunehmen. Leute, die nur wissen wollten, ob man die Brotbackmaschine von Rowenta noch auf Lager habe, wurden gefragt, was sie glaubten, hoffen zu dürfen; einem alten Mann, der sich erkundigte, wie lange die Filiale in Schöneberg aufhabe, wurde die Frage vorgelegt, wozu man auf der Welt sei. (»Keine Ahnung«, sagte der alte Mann, er werde nicht mehr lange da sein, aber das ließ man ihm nichtdurchgehen.) Abends, in seiner Wohnung, schrieb Robert die Tonbänder ab, die er und seine Mitarbeiterinnen aufgenommen hatten, und schickte das Material an die Stiftung. Von dem Geld, das er für sein Projekt überwiesen bekam, kaufte er sich eine neue Stereoanlage und bezahlte die Miete.
    Er hatte schon sechzig Seiten Material, als eine Frau von der Qualitätssicherung einen Testanruf im Callcenter tätigte, wobei sie in ein überraschend tiefgreifendes Gespräch über Dasein und Sosein verwickelt wurde. Danach musste Robert sich einen neuen Job suchen.
    Abends gingen er und Marie in eine Bar in der Gipsstraße, die Greenwich hieß. In die Wände dort waren Aquarien eingelassen – man fühlte sich wie unter Wasser, in einer untergegangenen Welt. Blasse Menschen lagen auf Sofas, griffen mit dünnen Armen nach Gläsern und ließen sich wieder in die Polster zurücksacken. Es sah aus wie in einem U-Boot, in dem der Sauerstoff knapp wird: Das Hirn hatte ihre Gesichtsmuskulatur ausgekoppelt, sie starrten mit offenen Mündern die Fische an, und die Fische starrten mit offenen Mündern zurück, während die französische Band Air einen beruhigenden Klangteppich über die Szene breitete. Es gab viele Orte wie das Greenwich in dieser Ecke der Stadt; das ganze Viertel war ein Aquarium, in dem die Leute im Kreis schwammen – einige, die Anfang der neunziger Jahre hierhergekommen waren, verbrachten ein ganzes Jahrzehnt damit, Projekte zu entwerfen und in den fensterlosen Bars zu sitzen, bis es draußen hell wurde, und konkrete Dinge auf den nächsten Tag zu verschieben. Die Mieten waren billig, und irgendwann standen dieselben Leute mittags in den heruntergekommenen Altbauwohnungen vor dem Spiegel und entdeckten die ersten grauen Haare über ihren müden Gesichtern, und aus keinem der Projekte war etwas geworden.
    Diese Stadt, besonders dieser Teil von ihr, sagt Bergsson später, sei grauenhaft, ein Trümmerfeld: Hinter den Fenstern der engen, braunen Häuser Türme begonnener Diplomarbeiten, nie geschriebener Drehbücher, gescheiterter Konzepte für nie umgesetzte Kommunikationsplattformen, eine gigantische kreative Müllhalde, das Volk darin eine verlorene Generation, die nichts erlebt und nichts vorhatte undin zu tiefen Sofas herumlungerte und wartete, ob das richtige Leben vielleicht doch noch vorbeischaute. Im Winter gäbe es hier sieben Monate lang so gut wie kein Licht, sagt Bergsson, die Leute seien deswegen müde und könnten nicht arbeiten, und im Sommer wiederum sei es zu schön; die langen, trockenen Berliner Sommer – da müsse man draußen sitzen und könne deswegen auch wieder nicht arbeiten. Berlin ruiniere einen, sagt Marie Bergsson; man müsse die Stadt verlassen.
     
    Robert verließ Berlin und ging in eine süddeutsche Universitätsstadt. Marie Bergsson behielt die Wohnung; in sein Zimmer zog Theresa Peterson.
     
    An dem Abend, bevor Theresa bei Julian auszog, stand ihr Mann hinter ihr im Schlafzimmer und starrte auf ihren Rücken. Sie hatte sich ein handtellergroßes Tattoo stechen lassen. Zwischen ihren Schulterblättern zeichnete sich im Halbdunkel ein mit Arabesken verzierter Drache ab. Ihr Körper war so dunkel, dass der weiße BH darauf zu fluoreszieren schien. Draußen war Nacht.
     
    Er: »Wo – wo hast du das her?«
    Sie: »Habe ich mir machen lassen.«
    Er: »Wo? Wann? Warum …«
    Sie: »In der Stadt. In Mitte.«
    Er: »Warum – wann warst du denn in Mitte? Warum hast du mich nicht

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