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Fahrtenbuch - Roman Eines Autos

Fahrtenbuch - Roman Eines Autos

Titel: Fahrtenbuch - Roman Eines Autos Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Niklas Maak
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direkt neben das Mikrofon warf und man (jedenfalls bildete sich der Tontechniker das ein) ihr Herz schlagen hörte, während sie die Nachrichten verlas, was man jedoch nicht merkte, weil die Nachrichten ohnehin von einem Herzschlagton und diversen strukturierenden Scheppergeräuschen unterlegt waren. Aber im Sender wurde geredet, dass sie zu viel trinke, und diesmal war es schlimm. Sie beugte sich wie immer über das Blatt Papier und begann zu sprechen; sie hatte wie immer ihre sehr dünnen Unterarme vor der Brust verschränkt und wippte vor und zurück, während sie den Text ablas, so dass die Techniker den Leberfleck unterhalb ihres Schlüsselbeins sehen konnten, aber diesmal schaute sie nicht zwischendurch hinüber zur Regie, sondern fuhr sich durchs Haar, das in wirren Büscheln auf ihrem Kopf stehenblieb und dann langsam, wie in Zeitlupe, in ihr Gesicht zurückfiel. Schon im ersten Satz begannen die Konsonanten ihren vorgesehenen Ort zu verlassen.
    »Es ist siehm Uhr«, sagte Marie Bergsson und zog den Kopf erstaunt zurück. »Hier sind die Nachrichen. Ich bin Marie Bergsson.«
     
    Ihr Kopf tat weh, und sie hätte sich jetzt gern kurz hingelegt, aber der Knopf links an ihrem Tisch blinkte rot und bestätigte, dass sie auf Sendung war. Draußen in der Welt, in der sie eben noch gefeiert hatte, saßen jetzt unnatürlich muntere Menschen in ihren Küchen oder in ihren Autos, hörten Radio und wollten wissen, was auf dem Zettel vor ihrer Nase stand. Sie musste es vorlesen. Sie musste. Es musste gehen.
     
    Eigentlich hieß Marie Bergsson Marie Kempel, aber der Name passte ihr nicht, und deswegen nannte sie sich Bergsson, und wenn sie gefragt wurde, ob das ein schwedischer Name sei, nickte sie ernst und sagte:» Ja, jag kommer från Sverige «, das einzige, was sie auf Schwedisch sagen konnte. Manchmal wurde sie gefragt, ob sie Bergson hieße wie Henri Bergson, der französische Philosoph, dann sagte sie nein, Bergsson wie Guðbergur Bergsson, der große isländische Schriftsteller, der Verfasser von Músin sem Laedist , ob man diesen phantastischen Roman etwa nicht gelesen habe. Sie war klein und sehr schlank, trug die Haare kurz und lief meistens in einem langen schwarzen Ledermantel und mit schweren Lederstiefeln herum; von weitem erinnerte sie an einen auf fünfundsiebzig Prozent verkleinerten Armeeoffizier.
     
    »Aufgrund eines von der Kullusministerkofferens«, begann Bergsson und machte eine kleine Pause. Auf dem Weg vom Auge über den Kopf hin zur Zunge hatten sich ein paar Konsonanten verabschiedet, so viel war klar. Sie starrte mit der gleichen fassungslosen Verärgerung auf das Papier, wie Hunde einer Fliege hinterherschauen, nach der sie vergeblich geschnappt haben. Die Worte auf dem Papier waren nicht lesbar, sie waren viermal so lang wie sonst, und die Buchstaben surrten in einem wirren Durcheinander umher. »Aufgrund eines von der Kultluskonferrens vorrelegten Reformpapiers«, setzte Bergsson neu an, »hat die Ministerpräsidennenkonferens beschlossen …«
     
    »Die ist ja völlig betrunken«, sagte der Tontechniker.
    »Betrunken«, wiederholte der Redakteur und starrte angestrengt durch die Glasscheibe in das Tonstudio. Marie Bergsson war sehr blass, eine dicke Strähne ihres blonden Haares war ihr vor das linke Auge gefallen und hing dort herum, offenbar las sie jetzt nur noch mit dem rechten Auge.
    Das ist nicht gut, was sie da macht, dachte der Redakteur, das ist live , da kann man nichts schneiden, das geht direkt so raus.
    »Bonn«, sagte Marie Bergsson, und es klang wie ein Gong.
    Bonn ist ein gutes Wort, dachte der Redakteur, auch wenn man ein bisschen was getrunken hat, merkt keiner was, Bonn ist eine Insel, auf die man sich retten kann in einem Meer vonKultusministerkonferenzen und Leuthäuser-Schnarrenbergers, und tatsächlich schien sie in ihrem schallisolierten Kabuff ein paar Zeilen lang ganz gut durchzukommen. Dann aber kam eine Meldung zu Tschetschenien. »Achtung«, flüsterte der Tontechniker, der das Manuskript vor sich liegen hatte, und klammerte sich an der Tischplatte fest.
    »Die schescheschenische-schsche-schetschneenische Opposission hat in scharfer Form«, sagte Marie Bergsson und hielt sich das Blatt noch dichter vor die Nase.
    »Was machen wir jetzt?«, fragte der Tontechniker.
    »Ja«, sagte der Redakteur mit dünner Stimme, »was machen wir jetzt?«
    Die Antwort gab ein Mann, der in den Aufnahmeraum stürzte, »rausrausraus« brüllte und theatralisch mit den Armen

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