Fahrtenbuch - Roman Eines Autos
Insolvenz gegangen sei, eine massive Wertberichtigung um zwölf Millionen vornehmen müssen. Wegen des Ausfalls von Early-Stage-Beteiligungen und der Expansion des Unternehmens, die im Prinzip einem stark wachsenden Segment, jedoch nicht der aktuellen Marktsituation entspräche, sehe man sich insgesamt zu einer außergewöhnlichen Wertberichtigung von 29,8 Millionen Euro gezwungen.
Er verstand kein Wort.
Ein paar Monate später rief der Freund ihn an: Es sei nun der Fall eingetreten, dass die liquiden Mittel der Venture-Capital-Gesellschaftzum Bilanzstichtag um dreihundert Prozent überstiegen worden seien, und da das Transaktionsrisiko nicht mit ausreichend Geld hinterlegt wurde, sei tatsächlich der worst case eingetreten … Kurz: Sein Geld war weg.
Er fand einen Job in einer Werbeagentur. Die jungen Männer mit den schwarzen Brillen kamen jetzt seltener, und wenn sie kamen, baten sie ihn um Jobs und Drogen und stellten ihm andere Leute vor, die Jobssuchten oder Drogen brauchten. Er begann, zu viel zu trinken, und entwickelte wirre Theorien von einem möglichen Umknicken der Zeitachse. Marie Bergsson konnte sich darunter wenig vorstellen, fand aber die Idee sympathisch, dass in einer Stadt, in der das Adlon wieder aufgebaut wurde und das Stadtschloss vielleicht auch, die Zeit außer Kontrolle geraten könnte und ein rückläufiger Zeitstrahl die Menschen in die Vergangenheit reißen würde, an einen Punkt zurück, wo die Berliner wieder Felle tragen und vor den Höhlen des Prenzlauer Berges das Fleisch der Büffel grillen würden, die am Spreebogen weideten, und mit Knochen nach den Missionaren aus dem Süden schmeißen und gar nicht wissen, was ein Stadtschloss ist. Isaac Newton, sagte Robert, habe behauptet, dass die absolute Zeit gleichförmig und ohne Beziehung zu einem äußeren Gegenstand verfließe; er habe von »Verfließen« gesprochen, aber nicht gesagt, wohin diese Zeit flösse: Konnte die Zeit, so Roberts Frage, also nur eine Richtung haben, und konnte sie ohne Dinge, im abstrakten Raum, vor sich hin fließen – oder war sie dort, wo es keine verfallenden, absterbenden Dinge gab, in der Lage, ihr Tempo zu ändern und sogar eine andere Richtung zu nehmen? Die fundamentalen Naturgesetze, die heute bekannt seien, schrieben nicht vor, in welche Richtung der Zeitparameter zu laufen habe; sie reichten nicht aus, um zu erklären, warum man viele physikalische Prozesse nur in eine Richtung ablaufen sehe; der Verfall folge nur einer Zeitrichtung, das allein beweise aber noch nicht, dass die Zeit zwangsläufig in diese Richtung laufen müsse; es wäre denkbar, sagte Robert, dass es keinen Verfall gebe, wenn die Zeit ihre Richtung änderte – wenn es gelänge, Quantenphysik und Gravitationslehre zusammenzubringen, könne man zu einem ganz neuen Bild der Zeit kommen. Unsere Vorstellung von Zeit, sagte Robert, sei nur richtig, wenn das Universum einen Ursprung habe, an dem maximale Ordnung herrschte, wenn es also vor etwa vierzehn Milliarden Jahren als gleichmäßiges Gebilde aus Raumzeit und Energie entstanden war. Seither müsste sich die Raumzeit stetig ausgedehnt haben. Die Energie gerann zu Materie, und die verklumpte zu Sternen und Galaxien, wofür die uns bekannten Galaxien sprächen. Das bedeute aber nicht, dass diese Gesetze auch intheoretisch denkbaren anderen Galaxien gälten, und es beweise auch nicht, dass Raumzeit sich zwangsläufig ausdehnen müsse – es könne sein, dass die Weltformel überhaupt keine Zeitparameter kenne, was wiederum bedeuten würde, dass Anfangs- und Endzustand des Universums identisch aussehen könnten. Denkbar wäre es aber auch, sagte Robert, dass das Universum sich nicht ständig weiter ausdehne, sondern dass es sich an einem bestimmten Punkt auf der Zeitlinie wieder zusammenziehe wie ein Luftballon, aus dem die Luft entweicht.
Die Werbeagentur musste Mitarbeiter abbauen; Robert verdiente sein Geld jetzt im Callcenter einer großen Supermarktkette.
Er raffte sich noch einmal auf. Er hatte von einer Stiftung Geld bekommen, um eine interaktive Internetplattform aufzubauen, auf der Laien grundlegende philosophische Fragen diskutieren sollten. Er nannte das Projekt »Performative Wissensbildung als neue urbane Erkenntniskultur«. Es ging darum, so hatte Robert es in seinem Forschungsantrag geschrieben, »philosophische Fragen jenseits der bekannten Diskurskreisläufe in die alltägliche Kommunikation einzuspeisen und das emanzipatorische Potential philosophischer
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