Fahrtenbuch - Roman Eines Autos
gefragt?«
Sie: »Weil ich dich nicht fragen muss, wenn ich in die Stadt fahren will, oder?«
Sie hatten beide Ökonomie in Lausanne studiert, und als sie vor drei Jahren nach Berlin gekommen waren, erschienen ihnen die Hinterhöfe und die Bars wie ein Versprechen. Sie zogen in die Kleine Hamburger Straße. Aus dem Fenster schauten sie auf die Ruine eines Gartenhauses, von dem der Kratzputz in Fladen abfiel und die erschreckteBacksteinwand freigab; Julian, der in Mainz, in einer Neubauvilla an einem Wendehammer aufgewachsen war, gefiel dieser Anblick.
Nachts hörten sie, dass aus einem nahen Keller Musik und Stimmen drangen, aber sie konnten nicht herausfinden, woher der Lärm kam. Sie zogen ihre Mäntel an und suchten den Eingang, aber sie fanden ihn nicht; als sie wieder im Bett lagen, drangen die Bässe wie ein ferner Lockruf zu ihnen; sie träumten Ungeheuerliches.
Als Julian für ein paar Tage nach Brüssel fuhr – er arbeitete damals bei einer Unternehmensberatung –, ging Theresa mit einem Freund aus, der schon länger in Berlin lebte. Er führte sie in die Keller, von denen sie bisher nur gehört hatte, und die Menschen dort erschienen ihr wie Vorreiter einer neuen Kultur – sie tanzten intensiver, sie waren sanfter und umarmten sich ständig. Vor den abblätternden Wänden eines muffigen Kellers küsste eine Frau sie auf den Mund, weiter hinten, in einem abgetrennten Raum, steckte eine Frau mit sehr großen Augen einem Mann ihren Finger in den Mund. Die Bässe trieben die Menge im Dunkel an, es war eng und heiß. »Du musst es probieren«, sagte der Freund, und dann tunkte die Frau ihren Finger in einen Beutel und steckte ihn auch Theresa in den Mund: Es schmeckte bitter, kurz darauf raste ihr Herz, ihr Kiefer tat weh, sie hörte alles wie durch Watte und sank jemandem in die Arme. Sie fand die Menschen um sich herum anbetungswürdig. Sie wollte jemanden küssen. Leute umarmten sie. Sie berührte Haare und Arme und seidene Hemden. Dann wurde es dunkel. Als sie aufwachte, war ihr heiß, und sie hatte einen trockenen Mund. Sie lag auf einem Samtsofa, und ihre Arme waren schwer. An ihrem Kopf lehnten zwei Bierflaschen; jemand küsste ihre Hand. Es fühlte sich gut an. Umso enttäuschter war sie, als der Freund ihr später erzählte, dass die Leute dort Methylendioxy-N-Methylamphetamin, kurz MDMA, genommen hatten und jeden geküsst hätten, auch einen Baum oder eine Parkuhr.
Mit der Zeit kam ihr Berlin-Mitte auf eine deprimierende Weise dörflich vor; die schmalen Einbahnstraßen der Spandauer Vorstadt, die Auguststraße, die Linien- und die Tucholskystraße wurden ihr zu eng,die Straßenzüge erinnerten sie an das muffige Idyll von Studentenstädten wie Heidelberg oder Tübingen. Man sah immer die gleichen Leute, die mit Mitte zwanzig in dieses Viertel gezogen waren und hier langsam, wie unter einer Käseglocke, alt wurden und jeden Weg, der sie aus dem Einbahnstraßenidyll über die Torstraße, die Friedrichstraße oder den Alexanderplatz hinausführte, als ungewöhnliche Expedition empfanden. Das hier hatte nichts mit Berlin zu tun, das hier war schmal und klein, ein Dorf, das man der Großstadt implantiert hatte, weswegen es auch all diejenigen so gern mochten, die aus den westdeutschen Provinzstädten nach Berlin gezogen waren: Es sah aus wie zu Hause in Göttingen und Münster, die Leute fuhren Fahrrad, sie saßen in kleinen Lokalen, gingen in kleine Galerien und arbeiteten an kleinen Projekten, die sich über Jahre hinzogen. Das einzige, was hier groß war, war der Turnschuhladen.
Alle trugen hier Turnschuhe oder Sneakers. Die große Turnschuhmanie veränderte den Gang, das Straßenbild; nirgendwo außerhalb von Florida gab es, quer durch alle Altersgruppen, so viele Turnschuhe wie in Berlin-Mitte. Die Leute gingen nicht mehr, sie wippten, federten, schlurften, auch die Alten. Auch sie trugen Bomberjacken und Chucks, und keiner wurde seltsam angeschaut, wenn auch er im großen warmen Mitte-Ding in neuen Turnschuhen und mit einem großen grauen Kapuzenpullover in den Clubs mitwippen wollte.
Nach einem deprimierenden Winter, in dem Julian und Theresa ratlos durch die kleinen, graubraunen Einbahnstraßen von Mitte gewandert waren, zogen sie nach Zehlendorf in eine alte Villa, die seinem Onkel gehörte. Einen Sommer lang fand Theresa es aufregend dort, aber der Winter wurde genauso trostlos.
Die Nachbarn, ein junges Paar mit Kind, luden sie zum Kaffeetrinken ein. Auch sie hatten einmal
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