Fahrtenbuch - Roman Eines Autos
Reisebüro eine Broschüre über die Vereinigten Staaten (sie wollten immer gemeinsam nach Florida fliegen) und hielt an der nächsten Telefonzelle. Eine Viertelstunde lang hockte er in der Zelle und starrte auf ein ausgeblichenes Terroristenfahndungsplakat. Genau genommen ähnelte Phyllis der Terroristin Petra Schelm ein wenig, aber diesen Gedanken verdrängte er; sie erinnerte ihn an jemand anders, aber er wusste nicht, an wen. Dann rief er Phyllis an, um ihr mitzuteilen, dass er einen Tisch reserviert habe (was nicht stimmte). Zu Hause überreichte er die Blumen, küsste seine Frau, die eine leicht ausweichende Bewegung machte, auf die Schulter und lud sie ins beste chinesische Restaurant der Stadt ein.
Zwei Tage später, am 25. Juni 1972, traf er Phyllis zu einem Mittagessen im Ratskeller. Sie trug ihr Haar in der Mitte gescheitelt, trotzdem fiel es ihr seltsamerweise asymmetrisch ins Gesicht (es muss an ihren Wirbeln gelegen haben, sagt Bellmann später). Wenn sie lachte, sah er ihre sehr schönen weißen Zähne, und auf ihrer Nase bildeten sich winzige, senkrechte Fältchen. Ihre rechte Augenbraue verlief höher als ihre linke (man könnte das operativ leicht korrigieren, dachte er, wenn man wollte); es gab ihr einen spöttischen Zug, egal, worüber sie sprach.
Er kam kaum dazu, etwas zu sagen. Sie aß fast nichts und redete ohne Pause, fuchtelte mit einem Stift vor seiner Nase herum, stellte ihm Fragen über Deutschland und das medizinische System, beklagte sich über die amerikanische Außenpolitik, erzählte von ihrerAusbildung in einem Militärkrankenhaus bei Frankfurt; erzählte weiter, dass sie bei einem Konzert von Ravi Shankar und Eric Clapton im Madison Square Garden gewesen sei, einem Benefizkonzert für Bangladesch, und Bob Dylan, sagte sie mit vollem Mund, während sie ein Brötchen in der Mitte durchbrach, Bob Dylan sei auch dagewesen, und George Harrison, er habe ausgesehen wie Jesus, in einem hellen Sommeranzug.
Bellmann nickte. Er sprach nicht schlecht Englisch, aber je schneller sie wild gestikulierend auf ihn einredete, desto weniger verstand er. Er hatte Wein getrunken, das hätte er, dachte er, nicht tun sollen, er starrte auf ihre Bluse, bemühte sich aber sofort, ihr wieder in die Augen zu schauen, die manchmal zwischen den kleinen Lachfalten schmal wurden, und ihre Erzählung raste wie ein Orkan aus englischen Worten um seinen Kopf herum.
Man muss sich Bellmann vorstellen, wie er an diesem Junimittag im Ratskeller sitzt und lange nichts sagt, hin und wieder ihre Fragen beantwortet, Worte verwechselt, sich bei einfachsten Erklärungen verheddert; es ist nicht seine Sprache. Er weiß nicht, was er erzählen soll, also erzählt er, dass Borussia Mönchengladbach Deutscher Meister geworden sei (mein Gott – kann man sie mehr langweilen als mit diesem Kram? Aber er redet weiter über Fußball, als habe es ihm ein böser Dämon befohlen), und das liege an Lothar Kobluhn von Rot-Weiß Oberhausen, he is from the town where my father was born, you know, er sucht vergeblich nach einer Übersetzung für das Wort Bundesliga-Torschützenkönig, aber natürlich interessiert sie das nicht.
Sie fragt, wo er lebe.
»Outside the city. It is a modern house, like in America. With a pool, it’s nice in the summer.«
Sie sagt: »Suburbia « und legt ihm, als müsse er getröstet oder beruhigt werden, ihre Hand auf den Arm. Sie findet die Vororte grauenhaft. Sie möchte am Strand leben, mit vielen Freunden. Sie ist der Meinung, dass Lyndon B. Johnson ein Verbrecher ist. Sie findet, obwohl sie es nicht sagt, das Essen im Ratskeller grauenhaft (sie lässt drei viertelübrig, vor allem die Fleischstücke). Sie findet Elvis Presley langweilig. Sie findet, Frank Sinatra sei etwas für alte Suffköpfe in ihren Vorortbungalows. Sie findet, die Everly Brothers sähen beim Singen aus, als müssten sie sich übergeben. The Chordettes? Kennt sie nicht mal. Sie erzählt, dass ihr Vater, ein Versicherungsmakler, in einem Vorort von Atlantic City einen Wochenendbungalow mit Pool besitze, es sei ganz furchtbar langweilig dort, ruft sie und macht zum ersten Mal eine Pause. Und er, seine Familie, sein Vater?
Sein Vater. Was weiß er von seinem Vater? Er erinnert sich kaum. Also erzählt er von der Zeit im Krieg, dem Backsteinhaus in Gelsenkirchen, nicht weit von der Zeche Nordstern, ein rußigschwarzes Haus mit matten Fensterscheiben, vor dem ein paar schwarze Bäume standen, die auch im Sommer nie richtig grün
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