Faktor, Jan
jüdisches Rennrad »Favorit« - zurückgelassenes Prachtstück eines nach
Kanada emigrierten Verwandtensohnes - und fuhr kurzerhand raus aus der Stadt.
Als sich eines Tages die Möglichkeit ergab, Prag tatsächlich zu verlassen, ging
ich auch. Dann noch einmal und noch einmal. Nach einigen Versuchen habe ich es
tatsächlich geschafft.Viele Bekannte meiner Mutter waren Ärzte, aber nur einer
war Gynäkologe. Ich forschte oft in seinem Gesicht, ob sich das, was er jeden
Tag vielfach zu sehen bekam, in seiner Mimik festgeschrieben hätte. Er war ein
offenherziger, gutgelaunter Mann, dessen Augen amüsiert strahlten, auch wenn er
gerade nicht lächelte. Ich nahm an, den Grund für seine dauerhaft gute Laune zu
kennen. Wie ich erst später erfuhr, war er außerdem - und davon gab es ein
ganzes Netzwerk in Prag - ein heimlich praktizierender Psychoanalytiker. Woher
sich seine gute Laune hauptsächlich gespeist hatte, konnte ich abschließend
nicht klären. Wenn man mich fragte, was ich im Leben werden wollte, sagte ich
meistens: Lastwagenfahrer. Die riesigen Lastautos der Marke »Tatra« entsprachen
mir mit ihrem Gedröhne, ihren riesigen Rädern und ihrem Gewaltgebaren ungemein.
Ich konnte sie eine Zeitlang täglich bewundern, als sie die Baustelle des
Atombunkers belieferten und auszuhöhlen halfen. Irgendwelche alternativen
Träume hätte ich gar nicht verraten können, weil ich keine hatte. Meine
glückliche Zukunft war im Grunde berufsneutral. Ich wußte nur, was ich absolut
NICHT wollte. Und das war das meiste, was um mich herum an glücklosen
Existenzentwürfen zu sehen war. Wohin ich mich auch wandte, gab es etwas
Unästhetisches, Ungesundes, Unfrohes. Egal, auf was ich mich konzentrierte,
irgendwann watschelte mir ein infarktbedrohter Mann ins Bild - und so einer
konnte ich einfach nicht werden wollen. Mein Vater warf sich manchmal ganze
Häufchen Nitroglyzerintabletten in den Mund. Er explodierte zwar nicht, starb
aber trotzdem als erster. Als Onkel ONKEL tatsächlich einen Herzinfarkt
bekommen hatte und im Krankenhaus lag, meinte seine Frau Eva trocken:
- Da muß
er durch.
In seiner
Abwesenheit wurde in seiner Schrankburg ein Gefäß entdeckt, das ich und meine
jüngere Cousine komischerweise nicht zu untersuchen gewagt hatten. Darin
bewahrte der Onkel irgendeine seltsame Substanz auf, die wie Schießpulver
aussah. Wie sich herausstellte, handelte es sich um die Überreste seines
Bruders, der schon recht früh an einem Infarkt gestorben war. Dieser
eingeäscherte Onkelbruder sollte eigentlich in einem Urnenhain bestattet
werden, aus Kostengründen schob es Onkel ONKEL aber immer weiter hinaus - bis
alle den zwischengelagerten Aschemann vergaßen.
- Diese
Kulturlosigkeit! regte sich Eva auf und bedauerte wie schon oft, sich von ihrem
Mann nicht längst getrennt zu haben. Jetzt geht es natürlich nicht mehr, meinte
sie.
Nachdem
der Onkel aus dem Krankenhaus gekommen war, jammerte er konsequent bei jeder
Gelegenheit, in der er sich ungerecht behandelt fühlte. Besonders dann, wenn
ein zu ehrliches Wort in seine Richtung fallengelassen wurde.
- Macht
nur so weiter, ich werde sowieso nicht mehr lange da sein.
Nach der
anschließenden Rehabilitation verordnete er sich - als Ausgleich zu den vielen
Ungerechtigkeiten dieser Welt und im Widerspruch zu allen moderneren
Fachmeinungen - eine so radikale Schonung, daß er danach noch fast vierzig
Jahre am Leben blieb. Auf diese Weise schaffte er es sogar, am Ende die gesamte
Frauenschar zu überleben.
Daß
unseren Messer-Jossip, der sich bei uns einmal die Hand durchstochen hatte, ein
langes Leben erwartete, war eher unwahrscheinlich. Ein Mensch wie Jossip konnte
ich also auch nicht werden wollen. Jossip verstümmelte sich aus Wut immer
wieder mal, seine Wunden waren inzwischen teilweise gut sichtbar. Ihm fehlte
ein Stück von einem Ohr (»für Vincent«), dann kamen zwei Fingerkuppen hinzu. Er
hatte tiefe Schnitte am Oberarm, einmal durchstach er sich sogar seinen
Oberschenkel.
- Ich weiß
doch, wo die Schlagadern langlaufen, Leute ... Nach seinen alkoholbefeuerten
Gewaltakten ging es ihmimmer viel besser. Er lief wieder ruhig und zufrieden
herum, erzählte offen und fröhlich von der aktuellsten Selbstbestrafung, wirkte
wie erlöst. Franz Kafka, der Meister des Kristallklaren, hätte für mich unter
den vielen Pragern vielleicht noch den besten aller Väter abgegeben haben
können - seinerzeit. Ich stellte ihn mir in dieser Rolle jedenfalls einmal vor,
und es
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