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Faktor, Jan

Faktor, Jan

Titel: Faktor, Jan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georgs Sorggen um die Vergangenheit
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gab. Ich lag in einem Zweibettzimmer und nicht in einem großen
mit fünf anderen kaputten, schwerkranken oder sterbenden Männern. Die
Schwestern waren mutterzuckerfreundlich zu mir, und bei der Operation bekam ich
die süßeste, weiter oben schon erwähnte Narkose verordnet - den schönsten
Rausch, den sich ein Mensch wünschen kann. So glücklich wie nach dem
anschließenden Erwachen war ich in meinem damaligen Leben bislang noch nie
gewesen. Meine glückliche Zukunft hätte soeben begonnen, dachte ich eine ganze
Weile. Daß mein ebenfalls bevorzugter Mitpatient in einer Nacht plötzlich
starb, konnte an meiner erstarkten Zuversicht überhaupt nichts ändern.
    Vielleicht
sollte ich mich nicht übertrieben konkret darüber auslassen, aber klare
Anzeichen dafür, daß so etwas wie das Weltjudentum doch existiert, gab es um
mich herum damals zuhauf. In allen möglichen Ländern der Erde hatten wir
irgendeinen mehr oder weniger nützlichen »Verwandten« -»unsere Leut«, drückte
man es in Anlehnungan das Jiddische aus. Diese Weltjuden waren bei uns durch
Briefe oder materielle Zuwendungen dauerhaft präsent. Im Winter kam immer eine
große Kiste Jaffa-Orangen vom Onkel Hans aus Israel. Aus der Türkei kamen sogar
mehrmals im Jahr die besten Rosinen der Welt - die in Istanbul lebende
Rosinentante Ruth war einsam, wollte uns in unserer sozialistischen  Misere 
unter die  Arme greifen,  und andere rettende  Ideen als Rosinenbombardements
hatte sie einfach nicht. Insgesamt bekamen wir von ihr so viele Rosinen
zugeschickt, daß wir sie teilweise an unsere unersättliche Putzfrau Frau
Slajsovä verfüttern mußten. Meine silbernen Tabletten gegen das Bettnässen
schickte Onkel Otto aus New York, mit riesigen Büchsen voller unappetitlich
schrumpeliger Oliven belieferte uns Rudi Münk aus Milano. Die Schokoladen, die
bei uns Kindern regelmäßig Oralorgasmen auslösten, kamen aus den Niederlanden.
Von dort kamen außerdem immer wieder einige Gulden, die in Tuzex-Wertbons
umgetauscht werden konnten und alle möglichen kapitalistischen Wunder ins Haus
brachten.
    - Der
Westen hat's in sich, kommentierte man die prächtig funktionierenden
Anschaffungen bei uns - auf Deutsch, versteht sich.
    - Wartet
mal ab, meinte regelmäßig Urtante Bombe; manchmal schwieg sie aber lieber.
    Als ich
einmal nachfragte, wer der Absender unserer schönen Gulden war, erfuhr ich, daß
dieser Mensch wieder zu dieser typischen Sorte von Verbindungsträgern gehörte,
die mit uns kein kleines bißchen verwandt waren. In diesem Fall handelte es
sich um den langjährigen Liebhaber der Frau eines Halbbruders meines Großvaters.
Seine Geliebte, die Emrl hieß, sowie ihr betrogener Mann starben im Ghetto von
Lodz. Indirekt über unsere Familie konnte dieser Liebende auf diese Weise die
größtmögliche Nähe zu seiner verstorbenen Emrl herstellen. In die
Tschechoslowakei - fürihn war es schon eins der Einzugsgebiete des sowjetischen
GULAG - wollte er leibhaftig auf keinen Fall einreisen. Wer die mir zuerst
suspekten Pistaziennüsse schickte oder die gepreßten Fladen aus getrockneten
Aprikosen, weiß ich nicht mehr. Eine dieser Sendungen kam, glaube ich, aus
Marokko. Wichtig war dabei etwas anderes: Damals, in der Tiefe der sechziger
Jahre, mitten im Prag des angeschlagenen Turbofortschritts, spielten solche
dinglichen Epiphanien die Rolle der übelsten Einstiegsdrogen - es handelte sich
um Requisiten aus der endlos weiten Fata-Morgana-Welt hinter den engen Grenzen
unseres Landes. Nebenbei demonstrierten diese Sendungen und ihre Inhalte
natürlich auch die Durchlässigkeit aller möglichen Grenzen. Die paradiesisch
schmelzende Schokolade, die salzigen Pistazien, die gummiartigen
Aprikosenfladen und und ... bedeuteten aber nicht nur, daß es irgendwo eine
ganz andere Art von Leben gab, die Aprikosenfladen brachten - ganz und gar
materiell - den Geruch und die Atmosphäre eines marokkanischen Marktes zu uns,
die für das Westgeld angeschafften Transistorradios von ungeahnter
Empfangskraft belieferten uns mit unzensierten Nachrichten ohne Ende, mit den
Orangen betraten einmal sogar israelische Spinnen unsere Wohnung. Ich wuchs
zwar in der schönsten Ecke der schönsten Stadt auf Erden auf, trotzdem wollte
ich aus dieser Stadt irgendwann auch verschwinden - und das um jeden Preis.
Dieser intensive Wunsch war nie sehr konkret, mein Drang zur Flucht steckte in
mir trotzdem fest. Wenn mich zwischendurch meine Unruhe packte, setzte ich mich
auf mein

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