Faktor, Jan
empfand ich das meiste von dem, was ich erlebt habe, als so
peinlich und unerträglich, daß ich froh war, es so nie wieder erleben zu
müssen. Egal, wie glücklich ich in meiner Kindheit und Jugend immer wieder war,
in der Regel fand ich die Umstände meiner Aufzucht fürchterlich. Leider bauten
sich diese Gefühle mit der Zeit nicht ab, sie summierten und verformten sich,
quetschten sich bis zur Unkenntlichkeit ineinander. Ich gewöhnte mir vorsichtshalber
an, auf meine groteske Familie und auf mich mit Despektion herabzublicken. Ich
sah uns wie von außen durchs Glas, ich sah uns wie durch eine kalte Wasserwand.
Meine Blicke kühlten bei jeder neuen, naturgemäß oft minderwertigen Lichtbrechung
weiter und weiter ab. In unserer Wohnung gab es für diese Art von Blicken
etliche halberblindete Spiegel, den größten von ihnen schlug ich bei einem
Wutanfall kaputt.
Der Prozeß
der ständigen Herabsetzung hinterließ in mir tief eingeritzte und eingestanzte
Spuren. Und weil ich diese Art Selbstbeschämung konsequent praktizierte,
drohten meine Ekelgefühle mich irgendwann vollkommen auszufüllen. Sie machten
ein fast hoffnungslos verschlossenes Wesen aus mir. In besonders schlimmen
Kernzeiten verschlug mir meine Vergangenheit die Sprache so gründlich, daß ich
es nicht einmal wagte, unverständlich zu murmeln. Ich konnte mich nur noch
stumm wundern - über mich und alles, was es außerhalb von mir noch so gab. Aber
auch in besseren Zeiten hielt ich lieber dicht, wenn man von mir konkrete
Aussagen verlangte.
- Wie
fühlst du dich?
- He? Hm.
Das hat
sich grundlegend geändert. Mein Name ist Georg, und ich habe jetzt endgültig
keine Probleme mehr damit, über mich und meine Vergangenheit zu sprechen.
Seltsamerweise war mir auch in den schlimmsten Perioden meines Lebens klar -
und es stand trotz aller Dauerqualen immer außer Zweifel -, daß mich eine helle
Zukunft erwartete. Das erleichterte mir mein Vegetieren ungemein. Mein
unerschütterlicher Glaube an die Zukunft bewirkte nämlich, daß meine Sorgen
nicht vorrangig die jeweilige Gegenwart, sondern fast ausschließlich meine
Vergangenheit betrafen. Ich mußte mich andauernd schütteln, wenn ich
zurückdachte. Wenn ich daran dachte, was ich gerade hinter mir gelassen,
welchen Unsinn ich da und dort erzählt hatte, litt ich wie ein verstümmeltes
Versuchstier. Meine Beschäftigung mit dem Vergangenen war für mich früher auch
deshalb so quälend, weil ich gern zwanghaft phantasierte, was alles hätte
brutal schiefgehen können in meinem Leben - noch viel schlimmer hätte ausgehen
können, als es der Fall war. So graute es mir aber wirklich nur vor meiner
lästigen Vorgeschichte - egal, wie realistisch oder angstverfremdet ich sie in
mir aufbewahrte. An die alltäglichen Abgründe war ich dagegen gewöhnt. Außerdem
war ich in meinem aktuellen, wenn auch oft reichlich abgründigen Morast aktiv
zugange, war wegen seiner zähen Klebrigkeit stark geworden und konnte nebenbei
zusehen, wie ich meinem vorverlagerten Glück immer näher kam.
Wenn ich
im Zusammenhang mit meiner Vergangenheit Wörter verwende, in denen es ums
»Denken« oder »Nachdenken« geht, heißt das nicht, daß ich damals über mich
wirklich nachgedacht hätte. Es war höchstens ein dumpfes Brüten, wozu ich fähig
war. Bei uns zu Hause war es aus Rücksicht voreinander nicht üblich, den
anderen verbal zu nahe zu treten, mit entsichertem Mund Fragen zu stellen und
Antworten zu verlangen. Um gar nicht in Versuchung zu kommen, andere
seelenpenetrant zu belästigen, dachten also auch die Klügeren unserer Familie
über sich selbst lieber nicht nach - und wegen der fehlenden Übung konnte es
tatsächlich auch niemand von ihnen. Inmitten des engen häuslichen Miteinanders
empfand sich sowieso kaum jemand von uns als ein ausreichend abgegrenztes
Einzelwesen; man spezialisierte und reduzierte sich funktional, wie man es von
Bienen oder Ameisen kennt. In meinem gedankenlosen jungen Gehirn gab es daher
viele freie Kapazitäten - vielleicht ist deswegen mein Geruchssinn so hündisch
hypertrophiert. Daß man Geheimnisse aus dem seelischen Unterleib überhaupt
preisgeben durfte, erfuhr ich erst mit sechsundzwanzig.
Was das
Nachdenken betrifft, fehlten mir also jegliche Vorbilder, jegliche
Möglichkeiten der Nachahmung oder Reibung; es fehlte mir auch an Material. Ich
forschte nach nichts, ich speicherte nichts - infolgedessen wußte ich fast gar
nichts über mich. Als mich meine spätere Frau mit den
Weitere Kostenlose Bücher