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Faktor, Jan

Faktor, Jan

Titel: Faktor, Jan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georgs Sorggen um die Vergangenheit
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wußte ich von meiner mich besonders in Liebesdingen schulenden
Mutter seit langem. Meinezukünftige Frau, die ich eines Tages tatsächlich auch
heiraten sollte, wohnte im gegenüberliegenden Haus in einer Dachgeschoßwohnung.
Wir trafen uns im allerletzten Moment, beide waren wir über fünfundzwanzig, und
ich befand mich zu diesem Zeitpunkt in einem miserablen Allgemeinzustand - war
trotz ausreichender Nahrung ausgezutscht, ausgezehrt und ausgenervt. Außerdem
war ich gerade dabei, meine nächste panische Prag-Flucht zu planen. Ohne diese
entscheidende Begegnung wäre ich höchstwahrscheinlich - wenn nicht direkt in
meiner schönen Stadt, dann eben woanders - auf die eine oder andere Art zu
Grunde gegangen, im besten Fall wäre ich in einer psychiatrischen Klinik voller
netter Schwestern gelandet. Dort hätte man mich allerdings garantiert mit den
damals üblichen Hammermedikamenten ruhiggestellt und entsorgungsnah
endtherapiert. Aus mir wäre irgendwann eine aufgedunsene stumpfruhige Kugel
geworden, wie aus einem meiner Freunde aus meiner schulischen Clique.
    Lange
Jahre meiner Kindheit hatte ich meine zukünftige Frau leider nie zu Gesicht
bekommen. Die länglichen schmalen Fenster ihrer Dachgeschoßwohnung in der Mickiewiczstraße
waren relativ hoch angesetzt. Aus meiner Sicht verbrachte das gutbehütete
Mädchen ihre gesamte Kindheit unterhalb der Fensterkanten. In ihrer Wohnung sah
man immer nur einen alten weißhaarigen Mann aufstehen und sich wieder
hinsetzen, außerdem und noch viel öfter einen jüngeren erwachsenen Mann, der
allerdings sehr beweglich war. Man sah ihn dauernd durch die Wohnung schießen,
manchmal war er gleichzeitig in zwei Räumen zu sehen, lief dabei oft in zwei
entgegengesetzte Richtungen. Später kam heraus, daß es sich bei diesem Mann um
ihn und seinen Zwillingsbruder handelte. Eine erwachsene Frau sah man in den
Fenstern der Wohnung nie, ein Kind eben auch nicht. Die beiden Männer fielen
auch noch wegen einer besonderen Eigenart auf: Der eine oder der anderestreichelte
gern sein eigenes Gesicht, fuhr mit der Hand regelmäßig und ausgiebig über
seine Wangen, Lippen und seinen Hals. Dieses meist morgendliche Ritual in der
Fensternähe war voller Zärtlichkeit und spielte sich offenbar vor einem von uns
aus nicht einsehbaren Spiegel ab. Vielleicht praktizierten diese
Gesichtsmasturbation abwechselnd sogar beide der Zwillinge. Mein Onkel, der
stolze Besitzer des ersten elektrischen Rasierapparates aus heimischer
Produktion, hatte für diese scheinbare Selbstverliebtheit eine einfache
Erklärung:
    - Der Mann
rasiert sich sicher woanders in der Nähe einer Steckdose und sucht dann am
Fenster nur die übriggebliebenen Härchen.
    Das
gegenüberliegende Haus war insgesamt um ein Stockwerk niedriger als das, in dem
sich unsere Wohnung befand - aus dem Grund wohnten ich und meine zukünftige
Dachgeschoßfrau ungefähr auf gleicher Höhe, in der gleichen Etage sozusagen.
Wir waren praktisch so etwas wie Flurnachbarn. Mein Interesse an der
gegenüberliegenden Dachwohnung und ihren männlichen Bewohnern hatte noch einen
sachlichen Grund: Ausgebaute Dachgeschosse sah man in Prag damals selten, in
meiner Gegend waren sie auf alle Fälle etwas Besonderes. Daß ich über diese
Familie etwas mehr wußte, als ich mir aus meinen Beobachtungen zusammenbasteln
konnte, verdankte ich Tante Erna, die in ihrer Distanzlosigkeit im ausgedehnten
nachbarschaftlichen Umfeld viele gute Kontakte unterhielt. Sie sprach -
schamfrei wie sie war - trotz ihres undefinierbaren Akzents und ihrer
manierierten Anglizismen Menschen an, die sie in der Gegend regelmäßig traf,
und fragte sie geradeheraus nach ihrem Befinden, dem Befinden ihrer Mitbewohner
und nach allen ihr als klärungsbedürftig vorkommenden Neuigkeiten. Auf diese
Weise kannte sie den gesamten kiezrelevanten Tratsch fast vollständig. Da sie
auch über uns alles mögliche erzählte, alles, was ihr erzählwürdig vorkam,
bekam unsere Wohnung nach und nach Glaswände. Ich könnte in diesem Zusammenhang
einige Sprüche aufzählen, als Beispiel müßte einer von Tante Györgyi reichen:
    - Ich
frage mich, wieso man beim Bäcker über meinen Fußpilz Bescheid weiß.
    Ärger
bekam Erna aber nur selten. Wir waren alle eher froh, gut informiert zu leben
und einen vorgelagerten Kundschafterposten zu haben, der uns eventuelle
feindselige Stimmungen melden würde. Aufgrund der tschechischen Gemütlichkeit
war es aber nie so weit gekommen. Über die männlich

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