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Faktor, Jan

Faktor, Jan

Titel: Faktor, Jan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georgs Sorggen um die Vergangenheit
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Waldboden zu ziehen - wir mußten uns
stark nach vorn beugen und sahen dabei wie Treidler an der Wolga aus. Ein Arzt
müßte auch schon unterwegs sein, meinte jemand, wir sollten warten. Der Arzt
kam tatsächlich baldangeradelt und sah in seiner etwas zerknautschten
Zivilkleidung nicht wie ein Arzt aus, war aber offenbar einer. Der etwas
unglücklich wirkende Mann untersuchte meine Mutter gründlich, schickte dabei
alle Fremden weg. Ein Blutdruckmeßgerät hatte er dabei, ein Stethoskop
ebenfalls, er gab meiner Mutter irgendwelche Tropfen. Sie wirkte jetzt wieder
relativ munter.
    In der
Zwischenzeit versuchten die Männer unser Auto freizubekommen. Und sie schafften
es ganz ohne schweres Gerät. Sie schoben etwas unter alle vier Räder, federten
das Auto mehrmals hoch und runter, »pumpten« es so lange auf und ab, bis einer
kurz vor dem oberen Kulminationspunkt das Kommando gab:
    - Te-RAZ!
    Der
Octavia hüpfte nach vorn, das Chassis und der Auspuff bekamen dabei die
nächsten Schäden verpaßt, die Hinterräder hatten die erste Hürde jetzt aber
überwunden - standen zwischen den Schienen. Dann wurde noch einmal gepumpt und
bei dem nächsten Sprung der hintere Schalldämpfer fast abgerissen. Das Auto
stand jetzt aber endlich hinter dem Gleisbett. Der Einlasser mühte sich mit
normaler Lautstärke ab, der Motor sprang aber nicht an. Unten am Auto
schepperte es mächtig auch beim Anschieben.
    Kurz
danach erschien zwischen den Bäumen - wie vom Himmel geschickt - ein Bauer mit
einem Pferd. Und ich konnte endlich sehen, was man sich unter PFERDESTÄRKE
vorstellen sollte. Das Fahrzeug zu ziehen kostete das schöne Tier anscheinend
keine Mühe, es mußte sich nicht einmal beim Anfahren sichtbar nach vorn
stemmen, marschierte einfach locker los, und das Auto folgte ihm. Wir setzten
uns alle in Bewegung und näherten uns auf einem parallel zur Straße
verlaufenden Weg langsam der Stadt. Ein wunderlicher Umzug: unser Auto von
einem Pferd geschleppt - immer wieder etwas ruckartig, aber rechtschnell.
Wesentlich ruhiger hatte es meine Mutter, die auf dem improvisierten
Doppelschlitten sanft und langsam durch den Wald glitt. Man hatte ihr nicht
erlaubt aufzustehen, ich sollte mich auch schonen und meine Mutter betreuen -
durfte nicht mitschleppen. Ich lief also neben den Schleppern her. Hinter dem
Lenkrad unseres sich entfernenden Octavia saß von Anfang an jemand anders.
    Im Grunde
leistete unser Alkoholikertrupp spontan das, wozu heutzutage die Feuerwehr, die
Polizei und der Rettungsdienst vonnöten wären - eventuell noch das Technische
Hilfswerk mit Ausrüstung für Industrieunfälle, auf alle Fälle für Einsätze auf
chemisch verseuchtem Gelände. Hier kam man ohne Sirenen oder Martinshörner aus,
es waren außerdem auch keine überzähligen Feuerwehrmannschaften alarmiert
worden.
    In der
Stadt wartete schon jemand auf uns. Dieser bereits reichlich mit Motoröl
verschmierte Mensch hatte im Hof eine einfache Montagegrube. Er drahtete den
Auspuff provisorisch fest, schweißte irgendwo ausgiebig elektrisch und auch
autogen, klopfte und schraubte danach noch kurz, und unter seinen goldenen
Händen sprang der Motor anschließend sofort an. Das Auto machte trotz allem
Krach wie ein Rennwagen. Ich bezahlte den Zauberer, teilweise mit unseren
tschechischen Kronen und dem Rest der DDR-Mark, dachte noch daran, das
restliche Geld für unseren Buttersammler und Herbergsvater zurückzuhalten. Wir
holten unser Gepäck ab, es war später Nachmittag. Den Weg bis Zgorzelec kannte
ich bereits, danach erwartete uns noch die Überquerung der Ausläufe des
Isergebirges. Meine Mutter sprach inzwischen wieder Tschechisch.
    - Nur weg,
Georg, weg von hier, sagte sie.
    - Bloß
nicht wieder über Deutschland fahren, meinten unsere Freunde - nicht nach
Görlitz. Die Deutschen lassen euch mit dem kaputten Auto nicht durch.Eine Woche
später bekam meine Mutter ihren zweiten Schlaganfall. Die Ausfälle waren etwas
ernster als bei dem ersten, im Gesicht war sie zum Glück überhaupt nicht
entstellt. Für Anna sei die Perspektive trotzdem schlimmer als der Tod, meinten
alle und schirmten sie von der Außenwelt ab. Nebenbei verstärkte sich aber
leider Mutters Gesichtstick - sie wölbte dauernd die Lippen nach vorn. Davor
hatte sie diese Unsitte einigermaßen im Griff gehabt. Jetzt wollte sie
niemanden sehen und sprechen, wollte vor allem nicht gesehen werden. Sie hatte
gleich vom Krankenhaus aus überall ausrichten lassen, sie wolle nicht besucht
werden.

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