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Faktor, Jan

Faktor, Jan

Titel: Faktor, Jan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georgs Sorggen um die Vergangenheit
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Mann
lag aber offensichtlich viel daran, unser Interesse wachzuhalten. Und ich war
ihm für seinen Eifer dankbar - ohne ihn wären wir hier vollkommen verloren
gewesen. Im Grunde hatten wir aber eher eine Führung absolviert, die sich vor
allem auf die Monumente beschränkte. Bis zu dem angekündigten Lager am
Wasserwerk kamen wir dann leider nicht. Meine Mutter bat mich, an einer
betonierten Kreuzung anzuhalten. An zwei Ecken standen dort hohe Betonpfeiler.
    - Hier
hing der Mann, wochenlang, sagte sie, er war Pole.
    Sie lief
noch einige Schritte weiter, dann fiel sie um. Sie lag auf dem weichen
polnischen Waldboden und bewegte sich nicht. Die Männer kamen angerannt und
zückten ihre wertvolle Wodkaflasche. Ich rieb meiner Mutter die Schläfen ein
und goß ihr etwas über die Haare, um ihre Augen nicht zu treffen. Im Auto war
noch eine Flasche Wasser, diese Abkühlung half ihr aber auch nicht. Sie rollte
mit den Augen und sprach plötzlich Jiddisch.
    - Er hot
gehat a batsiung mit a daytshke.Wir schafften sie ins Auto auf den Hintersitz.
    - Zey hobn
im getseylemt.
    - Hier
wurde vierundvierzig ein Pole gekreuzigt, sagte der Ältere, verrückt!
    - Er iz
dortn gehangen etlekhe vokhn, murmelte zwischendurch meine Mutter.
    - Wie geht
es am schnellsten hier raus? fragte ich.
    - So lang.
    Die beiden
Männer quetschten sich auf den Vordersitz, nahmen ordentliche Portionen Wodka
zu sich, und wir fuhren los. Meine Mutter war einigermaßen bei sich und lag
ruhig. Was ich am Anfang unserer Rundfahrt befürchtet hatte, traf leider bald
ein. Der Schienenstrang, der uns hier den Weg versperrte, war noch höher als
der erste.
    - Zaden
problem. Alle fahren hier lang.
    Die
plötzliche Eingebung, solche Erhöhungen ließen sich am besten im hohen Tempo
überwinden, schien mir auf einmal vollkommen realistisch zu sein - und vor
allem zeitsparend. Vor der vorderen Schiene hatte jemand etwas Sand angehäuft,
diese Art Rampe lud zu einem Hüpfer regelrecht ein - und ich wollte immer schon
so elegant mit dem Auto springen können wie Belmondo. Ich gab im zweiten Gang
ordentlich Gas, unsere 42 PS beschleunigten uns, der Motor heulte - und bald
danach saßen wir fest. Der motorschwere Octavia-Bug hatte zwar einen kleinen
Sprung gemacht, die Vorderräder krachten dann aber gegen die zweite Schiene und
schafften es nur knapp, dahinterzuhüpfen. Bei diesem Hüpfer bekam das Chassis,
vorn natürlich außerdem die Karosserie, einige harte Schläge ab - Metall traf
auf Metall. Und weil die Hinterräder noch vor der ersten Schiene
stehengeblieben waren und das Chassis im wesentlichen aus einem dicken
Mittelrohr bestand, war der sonst so hochbeinig wirkende Octavia auf den
Gleisen wie mittig aufgebockt - und kippelte seitlich. Wenn ich Gas gab,
drehten die Hinterräder nur durch. Bei dem Aufprall war nochetwas anderes
passiert - meine Mutter war vom Sitz auf den Boden gerollt.
    - Er iz
geven a polyak, sagte sie noch auf Jiddisch, nachdem wir sie auf den Sitz
zurückgehievt hatten.
    Danach war
sie wieder nicht ansprechbar, war aber wach. Niemand aus der Familie sprach
eigentlich Jiddisch, angeblich auch nicht vor dem Krieg - nicht in Ostrau,
nicht in der Slowakei oder in Budapest. In Wien schon gar nicht.
    Die
Landstraße war offenbar nicht weit, ich hörte dort gerade ein Auto
vorbeifahren. Der jüngere Mann verabschiedete sich plötzlich wortlos und rannte
los - im ersten Moment sah es nach einer kleinen Panikattacke aus. Es war aber
gar keine Flucht - er hatte zwischen den Bäumen einen Fahrradfahrer erspäht.
Meine Männer und der Fahrradfahrer versuchten, das Auto samt meiner Mutter kurz
zu schaukeln, gaben es aber gleich wieder auf, und der Radfahrer fuhr mit Tempo
los. Ich setzte mich still ins Auto. Schon bald trafen wie aus dem Nichts die
ersten Helfer ein. Wieso es so schnell ging, war mir schleierhaft.
    Einige der
Leute waren unsere Trinker, es waren aber auch andere Hilfsbereite dabei. Einer
zog sogar einen reizenden Miniaturleiterwagen hinter sich her, dieser war für
meine Mutter aber eindeutig zu kurz. Bald danach erschien einer aus der
Trinkerclique mit zwei Kinderschlitten und einem längeren Seil. Seine Idee war
erstklassig. Er schlug vor, die beiden Schlitten seitlich zusammenzubinden und
meine Mutter draufzulegen.
    - In
stabiler Seitenlage. Zum Kalten Krieg gehörte zum Glück auch die
Zivilverteidigung.
    Ich holte
eine Decke aus dem Auto, wir legten meine Mutter etwas gekrümmt auf die
Doppelliege und versuchten, sie auf dem

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