Falkengrund Nr. 29
ihr eigener Fuß nur ein paar Zentimeter von dem Sockel einer modernen Stehlampe entfernt war. Gegen das Monster half ihr das nichts, aber mit einem schnellen, gezielten Tritt zog sie die Lampe so heran, dass sie kippte und von der Seite auf die Ärztin zu fiel. Diese schrie, und im nächsten Moment richtete sich das Geschöpf auf, um ihr zu Hilfe zu eilen.
Madoka nutzte die neue Bewegungsfreiheit vom ersten Sekundenbruchteil an. Sie hockte die Beine an und explodierte dann wie eine gespannte Feder. Die ersten Tritte gingen in den Unterleib der Kreatur, ließen sie zusammenknicken. Mit einem Aufschrei platzierte Madoka den entscheidenden Hieb in den Nacken des Ungeheuers. Dieser entfaltete seine Wirkung, während das Wesen gerade im Begriff war, wieder auf die Beine zu kommen.
Die Bewegung brach ab, man konnte sehen, wie die Kraft aus den Gliedern floss, das Wesen erstarrte einen Moment auf halber Höhe und krachte dann ohnmächtig zu Boden.
Madoka stand auf. Auch die Ärztin war gestürzt, rieb sich stöhnend die Schläfe, wo der metallische Lampenschirm sie getroffen hatte.
„Ich möchte alles erfahren“, sagte Madoka noch einmal, ein wenig außer Atem.
„Und jetzt habe ich Lust bekommen, Ihnen alles zu zeigen“, erwiderte Dr. Nomura mit eisiger Kälte in der Stimme.
5
Madoka war mit Dr. Nomura allein im Wagen. Die Ärztin saß am Steuer, die junge Frau neben ihr auf dem Beifahrersitz. Sie fuhren nach Funabashi.
Mittlerweile war es kurz vor Mitternacht. Ehe sie sich auf den Weg machten, hatte sie ihren Vater befreit und die Kreatur gut gefesselt. Natürlich wollte Dr. Andô sie zum Funabashi Cryonics Center begleiten, doch Madoka überredete ihn dazu, mit einem Taxi den Heimweg nach Tôkyô anzutreten. Sie würde die Situation leichter kontrollieren können, wenn sie mit Dr. Nomura allein war. Sie hatte das Gefühl, dass im Institut noch die eine oder andere Überraschung auf sie wartete, und sie fühlte sich sicherer, solange sie nicht den Aufpasser für ihren Vater spielen musste.
„Woher rühren eigentlich die finanziellen Schwierigkeiten, in denen das FCC auf einmal zu stecken scheint?“, erkundigte sich Madoka, während sie durch die modernen, seelenlosen Vororte von Funabashi fuhren. „Die Preise, die Ihre sogenannten Patienten zahlen, dürften hoch genug sein. Da wird doch nichts veruntreut worden sein …“
Die Ärztin antwortete nicht gleich. Nach zwei Minuten stummem Brüten sagte sie unwillig: „Schweigegeld.“
„Schweigegeld?“
„Über meiner Arbeit hatte ich eine dumme Klausel in einem Vertrag vergessen. So ein neunmalkluger Journalist hatte sich das Recht gesichert, nach fünf Jahren Fotos von sich schießen zu lassen. Wenn ich daran gedacht hätte, hätte ich die Finger von seinem Körper gelassen. So habe ich seine Arme für meinen Sohn mitverwendet. Die Tochter lief Amok, als sie die Leiche ihres Vaters ohne Arme in dem Behälter liegen sah. Dabei hätten sie ihm ohnehin nichts mehr genutzt. Zuerst wollte sie unbedingt damit an die Öffentlichkeit gehen. Wir konnten sie überzeugen, dass ihr am meisten geholfen war, wenn sie das Geld, das ihr Vater für das Einfrieren und sein zukünftiges Leben in der Zukunft bezahlt hatte, als rechtmäßige Erbin wieder zurückbekam – und noch einen Batzen dazu. Als sie erst einmal Blut gerochen hatte, saugte sie uns bis auf den letzten Tropfen aus. Das hat uns das Genick gebrochen. Das FCC liegt in den letzten Zügen. Aber vielleicht ist das gut so. Ich werde schon bald einen neuen Ort finden, an dem ich meine Arbeit fortsetzen kann.“
Woher nimmt sie diesen Optimismus , fragte sich Madoka. Ist es der Wahnsinn? Oder hat sie schon konkrete Pläne, um sich den Behörden zu entziehen?
Das Center wurde von einer asymmetrischen Scheinwerfergruppe erleuchtet. Auf dem kleinen Parkplatz stand ein Sportwagen, dessen Innenbeleuchtung brannte. Dr. Nomura vermied es, ihr Fahrzeug dort zu parken, fuhr stattdessen über die Rasenfläche bis zu einer kleinen Metalltür. Madoka warf interessiert einen Blick in den Seitenspiegel, um zu erkennen, was der Fahrer des Sportwagens tun würde. Wie sie erwartet hatte – er riss die Tür auf, schwang die Beine heraus und sprintete in ihre Richtung. Ein nicht mehr ganz junger, ziemlich rundlicher Mann in einem hellen Anzug. Es waren hundert Meter bis zu ihnen. Keine Entfernung, selbst für jemanden, der schlecht in Form war.
Die Ärztin musste ihn ebenfalls gesehen haben. „Schnell raus!“, rief sie.
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