Falkengrund Nr. 29
Aufzeichnungen“, verlangte Madoka.
Wieder flog eine Schublade auf. Ein eselsohriger Packen Papier lag in der knochigen Hand der Medizinerin. Als Madoka danach griff, zog Dr. Nomura den Packen weg. „Eines nach dem anderen“, meinte sie lauernd. „Erst will ich Informationen darüber, wo der Film sich jetzt befindet.“
„Die Schatten haben ihn.“
„Schwarze Schemen, die sich ruckartig bewegen und Geweihe auf dem Kopf tragen.“
„Richtig.“ Madokas Hand schnappte noch einmal nach dem Papierstapel, diesmal so ansatzlos und schnell, dass die Ärztin zu spät reagierte. Die Hälfte der Blätter erwischte sie, die andere Hälfte flatterte zu Boden. Die junge Frau überflog den Inhalt.
Der Medizinerin war der Zorn anzumerken, der in ihr brodelte, aber noch hatte sie sich unter Kontrolle. „Als Zeichen, dass ich keine Geheimnisse vor Ihnen habe, zeige ich Ihnen noch etwas – vielleicht entschließen Sie sich dann dazu, auch mir die Wahrheit zu verraten.“ Tief im Inneren der Schublade, die sie als letztes geöffnet hatte, gab es einen kleinen Umschlag aus grauer Pappe. Sie reichte ihn Madoka, und diese klappte ihn auf.
Er enthielt ein winziges Einzelbild aus dem Film. Als sie es zwischen zwei Finger nahm und vorsichtig gegen das Licht hielt, erkannte sie eine ähnliche Szene wie jene, die sie eben auf der Fotografie gesehen hatte – diesmal war das weibliche Mitglied des Filmteams deutlich zu erkennen, das seinerzeit den Super 8-Film auf Falkengrund gedreht hatte.
„Interessant“, sagte Madoka nur.
„Geben Sie es mir, dann lege ich es unter das Mikroskop.“
Madoka steckte das Bild in den Umschlag zurück und ließ diesen in ihrer Tasche verschwinden. „Das ist bei mir besser aufgehoben“, lautete ihr Kommentar.
Dr. Nomuras Gesicht verfärbte sich. „Sie gehen zu weit“, knirschte sie. „Ich habe Ihnen vertraut.“
„Sie haben gepokert“, verbesserte Madoka. „Mit Vertrauen hat das nichts zu tun.“
„Geben Sie es zurück!“
„Zwingen Sie mich …“
„Ich dachte, man kann mit Ihnen reden.“ Kopfschüttelnd verließ die Medizinerin das Labor, wankte in den Vorraum hinaus und irrte scheinbar ziellos vor den marmorverkleideten Schubfächern herum. Schließlich erreichte sie das Schaltpult, schien sich dort abzustützen, als ein plötzlicher Schwindel sie erfasste. Madoka durchschaute sofort, dass Dr. Nomura ihr Theater vorspielte, aber sie war viel zu neugierig, auf was es hinauslaufen würde, als dass sie sie gestoppt hätte.
Die dünnen Finger der Ärztin wanderten über die Tastatur unterhalb des Displays, und es sah aus, als würde sie nur zerstreut darüber hinwegstreichen. In Wirklichkeit drückte sie die empfindlichen Tasten. Eine Alarmanlage? Rief sie Hilfe? Madoka vertraute darauf, dass sie es notfalls auch mit ein paar bewaffneten Sicherheitskräften aufnehmen konnte.
Ein Kreischen erfüllte die unterirdischen Räume – Metall rieb an Metall. Die schwere orangefarbene Tür gegenüber des Labors bewegte sich, glitt langsam auf. Sie war noch keine zehn Zentimeter geöffnet, als sich etwas in den Zwischenraum schob.
Es waren Finger. Finger von ungeheuerlicher Größe, wulstig und unförmig, mit schmutzigen, abgebrochenen Nägeln, übersät von Rissen und Narben. Als die Tür weit genug geöffnet war, schoss ein gewaltiger Arm hindurch, ein anderthalb Meter langes Gebilde aus blasser Haut, überwuchert von unregelmäßiger Behaarung. Unter der Haut wölbten sich Muskelberge, von denen die meisten nicht dort hinzugehören schienen.
„Sie kommen sich so klug vor“, zischte die Medizinerin. „Dabei können Sie nicht einmal auf fünf zählen. Sagte ich nicht, dass ich fünf Bilder erworben hatte? Eines haben Sie sich unter den Nagel gerissen, ein anderes steckt im Zwischenhirn meines zweiten Sohnes. Jetzt bin ich gespannt, ob sie erraten, wo ich die restlichen drei versteckt habe …“
„Ich hätte Sie bei Gelegenheit noch dazu befragt“, gab Madoka zurück. Fasziniert verfolgte sie, wie die Tür weiter zurückwich und einen Körper freigab … einen Körper, wie er einem Spiele-Programmierer zwischen Chips und Cola kaum besser hätte einfallen können.
Das Wesen, das man nach Dr. Nomuras Worten wohl als ihren „ersten Sohn“ einstufen musste, maß zweieinhalb Meter. Sein Kopf war ein winziges, lächerliches Etwas mit kleinen Augen und schlichten Zügen, dominiert von einem in die Breite gezogenen Mund, der der Miene eines trotzigen Kindes entnommen zu sein schien.
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