Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Falkengrund Nr. 29

Falkengrund Nr. 29

Titel: Falkengrund Nr. 29 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Clauß
Vom Netzwerk:
Der Oberkörper war monumental. Geschwollene, wie aufgeblasen wirkende Muskeln gruppierten sich asymmetrisch und schief auf den Schultern und der massigen Brust.
    Der schrecklichste Teil aber war das zweite Armpaar, das vollkommen nutzlos schräg unterhalb des ersten aus dem Rumpf wuchs! Die beiden zusätzlichen Arme hingen kraftlos herab, der eine schlaff und tot wie eine Gummiattrappe, der andere wurde von heftigen Muskelzuckungen durchlaufen und schnappte unkontrolliert in alle Richtungen. Der schwere Körper ruhte schlecht ausbalanciert auf viel zu kurzen, gedrungenen Beinen unterschiedlicher Länge.
    Madoka hatte in ihrem Leben nie etwas Hässliches und Bemitleidenswerteres gesehen. Allerdings auch nichts Gefährlicheres.
    Ihre Faszination verwandelte sich in Besorgnis, als sich das Wesen durch den immer breiter gewordenen Spalt einen Weg in den Vorraum bahnte. Vom ersten Moment an schien es in der fremden Frau nur eines zu sehen: ein willkommenes Ziel für die Aggressionen, die es während seiner Gefangenschaft angesammelt hatte. Madoka warf einen Blick vorbei an der Kreatur in einen leeren, kahlen Raum hinein. Kratzspuren an den Wänden passten zu den lädierten Fingernägeln, und verschmiertes Blut stammte zweifellos von dem Wesen selbst. Die Frau, die es wagte, sich seine Mutter zu nennen, hatte es unter unwürdigen Umständen gehalten wie ein wildes Tier in einem Käfig.
    Dr. Nomura hatte keine Sekunde lang versucht, ein Wesen zu schaffen, das den kostbaren Funken des Lebens wert war. Anstatt einen Sohn zu machen, den sie lieben konnte, hatte sie ihrem Hass auf das Leben freien Lauf gelassen und eine Kreatur gestaltet, die die gesamte Schöpfung verspottete. Dieser Hass – das spürte Madoka intuitiv – war auf dieses Geschöpf übergegangen. Sein Schicksal war schlimmer als das eines ungewollten Kindes. Es war ein gewolltes Monster. Man hatte es bewusst um sein Recht betrogen, ein menschenwürdiges Leben zu führen.
    Dr. Nomuras erster Sohn hieb mit den Fäusten auf den Boden, dass die Verkleidungen der Schubfächer klapperten und die Beleuchtung für einen Moment flackerte. Was ihm an Hirn fehlte, hatte es an Muskelkraft dutzendfach mitbekommen. Madoka wich zurück, während es in ihrem Kopf arbeitete.
    Das Ungeheuer blieb mit den Schultern in der Tür hängen, als es der jungen Frau in das Labor folgen wollte. Der winzige Kopf stieß einen erbärmlichen Schrei aus, und es wand sich durch die Öffnung. Erst jetzt fiel Madoka der Gegenstand in seiner Rechten auf. Es war der Feuerlöscher, der eben noch neben der Fahrstuhltür gehangen hatte. Das Wesen hatte ihn so beifällig abgerissen, dass sie es nicht einmal registriert hatte.
    Das Monster hielt das schwere Objekt hoch und betrachtete es, als müsse es seine Funktionsweise ergründen. Dann entschloss es sich offenbar, dass es ein gutes Wurfgeschoss abgeben würde, und hob es hoch.
    Madoka hatte sich in die Ecke gedrängt und suchte ihrerseits nach etwas, das sich als Waffe einsetzen ließ. Sie hatte zwei Schranktüren zu öffnen versucht – die eine war verschlossen, hinter der anderen verbargen sich nur Aktenordner und Büroartikel. Als sie nach dem Heftgerät griff, flog der Feuerlöscher heran. Er traf nicht sie, sondern die geöffnete Schranktür, mit dem Ergebnis, dass die Tür schneller zuklappte, als sie ihre Hand herausnehmen konnte.
    Die junge Frau heulte auf. Dann riss sie ihren Arm an ihren Körper, floh in die andere Ecke, versuchte den bestialischen Schmerz in ihrer Hand zu ignorieren. Der Anblick des Monstrums hatte sie nahezu gelähmt. Ein vierarmiges Ungeheuer gehörte nicht in diese Realität.
    Madoka ging in die Hocke und schnellte dann in die Höhe. Sie berührte die Decke, während das Wesen auf sie zuraste. Jetzt, wo es keine Wurfgeschosse mehr hatte, war sein Verhalten vorhersehbarer. Es streckte die beiden aktiven Arme zur Seite hin aus, um ihr keinen Raum zur Flucht zu lassen, wollte sie offenbar mit der schieren Masse seines Brustkorbs erdrücken. Madoka zerschlug die Neonröhre an der Decke, griff nach den Halterungen, und schwang sich daran nach vorne. Scherben fraßen sich in ihre Hände. Ihre Füße kickten nach dem kleinen Kopf. Und trafen.
    Das Monstrum nahm den Schlag hin, als hätte es eine zurückhaltende Ohrfeige erhalten. Der rechte der zusätzlichen Arme zuckte vor der Brust auf und ab, verursachte dabei klatschende Töne. Mit den intakten Armen fing das Wesen sich an der Wand ab, und es benutzte die Hände, um

Weitere Kostenlose Bücher