Falkengrund Nr. 29
Dinge. Niemand kann etwas vollständig Totem den Funken des Lebens zurückgeben. Niemand!“
Sie bog in immer kleinere Straßen ab, lenkte den Wagen in dörfliche Gegenden. Die Häuserreihen standen hier lockerer und wurden immer häufiger von ausgedehnten Feldern unterbrochen.
„Wissen Sie noch, wie der Roman endet?“
Andô dachte angestrengt nach. „War da nicht etwas mit einer brennenden Mühle?“
„Ah, das war in der Verfilmung von 1935 mit Boris Karloff. Im Roman gibt es diese Szene nicht. Sie ist sinnlos, reine Effekthascherei. Am Ende des Romans verfolgt Frankenstein sein Geschöpf auf einem Schiff bis in die Polarregion. Dort stirbt er, und das Monster, das an seinem Totenbett trauert, stürzt sich ins ewige Eis.“
„Es bringt sich um?“
„Das ist die gängige Sichtweise, Dr. Andô. Aber darum geht es nicht. Der springende Punkt ist das Motiv des Eises, mit dem die Geschichte ausklingt. Frankenstein ist gewissermaßen ein utopischer Roman, oder Science Fiction, wenn Sie so wollen. Es geht darin nicht um altmodische viktorianische Gespenster, sondern um ein Thema, das die Menschheit in der Zukunft beschäftigen wird. Am Schluss steht kein Ende, sondern ein Ausblick. Der Schluss verweist auf die Zukunft. Und die Zukunft ist das Eis. Verstehen Sie?“
„Ich bin mir nicht sicher. Hat es etwas mit … Kryonik zu tun?“
Dr. Nomura stoppte den Wagen vor einem alleinstehenden Holzhaus. Es sah aus wie viele andere. „Von Anfang an war mir klar, dass ich nicht in Graberde wühlen würde, um mein Material zu bekommen. Was begraben ist, ist tot, für immer. Die Zellen einer Leiche sind nichts als Abfall. Es musste eine Möglichkeit geben, an lebendiges Material zu kommen, ohne dafür Menschen zu töten.“
Dr. Andô schluckte. „Dieses … Material, wie Sie es nennen, fanden Sie zufällig bei Ihrer Arbeit im FCC …“
Sie lachte. „Von Zufall kann keine Rede sein. Es war von der ersten Minute an der Grund, warum ich mich überhaupt mit Kryonik beschäftigte. Ich habe mich zu einer der führenden Wissenschaftlerinnen auf diesem Gebiet hochgearbeitet – dabei habe ich keine Sekunde die naiven Hoffnungen dieser Leute geteilt. Glauben Sie, dass diese armen Narren in ein- oder zweihundert Jahren jemand aufwecken wird? In einer Zeit, in der die Überbevölkerung diese Erde in eine brodelnde Hölle verwandelt hat?“
„Das dürfte unwahrscheinlich sein.“
„Nein, das ist es nicht. Es ist ausgeschlossen . Deshalb bediene ich mich ohne Skrupel bei diesen Menschen. Sie sind ohnehin gestorben, technisch gesehen. Dass ihre Zellen vor dem Verfall gerettet wurden, bedeutet nichts – für sie. Für mich ist es eine Chance.“
„Steigen wir hier aus?“, wechselte Andô das Thema.
Dr. Nomura überhörte es. „Was empfinden Sie, wenn Sie meinen Sohn ansehen?“, fragte sie.
Er antwortete spontan: „Ich frage mich, ob Mary Shelley sich das Mon-… die Schöpfung Frankensteins wohl so vorgestellt hat. Warum … warum haben Sie ihn aus so vielen Stücken zusammengesetzt? Konnten Sie nicht einen Kopf als Ganzes benutzen?“
Die Kreatur sah ihn an, die Augen bewegten sich unabhängig voneinander, und die Unterlippe krümmte sich wie eine Made. Der Abend war hereingebrochen, es wurde rasch dunkler, und hier gab es keine Straßenbeleuchtung mehr. Die Ärztin schaltete kein Licht ein. Mit den lebendigen Schatten auf dem Gesicht wirkte das Wesen noch unheimlicher.
„Zwei Gründe: Zum einen musste ich etwas Eigenes schaffen, einen neuen Menschen, wie ein Kind es ist. Dafür konnte ich nicht einfach einen bestehenden Körper mit Leben erfüllen. Es ist erwiesen, dass die Persönlichkeit eines Menschen nicht nur in seinem Gehirn wohnt. Bei Verpflanzungen von Organen oder Gliedmaßen erleben die Patienten Persönlichkeitsveränderungen. Je mehr Teile, desto individueller das Endprodukt.“
„Ich verstehe.“
„Der zweite Grund ist vielleicht noch wichtiger: Viktor Frankenstein wollte einen schönen Menschen schaffen, versagte und begann sein Werk dafür zu hassen. Ich gehe davon aus, dass es unmöglich ist, aus all diesem unterschiedlichen Material etwas zu erstellen, das dem Ästhetikgefühl des Menschen gerecht wird. Also habe ich ihn bewusst hässlich gemacht, abstoßend. So habe ich die Garantie, niemals enttäuscht von ihm zu sein. Sie sehen, Hakase, die gründliche Lektüre des Romans hat mich vor Fehlern bewahrt.“
„Sie hatten also auf Anhieb Erfolg?“
„Keineswegs.“ Ihre Miene verdüsterte
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