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Falkengrund Nr. 29

Falkengrund Nr. 29

Titel: Falkengrund Nr. 29 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Clauß
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Abgesehen von dem Versuch, sich selbst umzubringen, hatte sie es auch niemals versucht. Die weisen Lehrer, bei denen sie in China die Feinheiten verschiedenster Kampfkünste erlernt hatte, waren in diesem Punkt sehr streng gewesen. Bereits der Wunsch zu töten wurde als schwerwiegendes Vergehen angesehen – ein Verbrechen gegen sich selbst und, schlimmer noch, gegen die lange Reihe von Meistern, die an der Entwicklung, Verfeinerung, Bewahrung und Vermittlung dieser Künste beteiligt waren.
    Doch dieses Monster ließ sich nicht bewusstlos schlagen. Wenn sie überleben wollte, musste sie sein Leben auslöschen, irgendwie.
    Ich kann es nicht , sagte eine Stimme in ihr. Es verdient nicht zu leben, aber noch weniger zu sterben. Wie kann ich ein Wesen töten, das noch keine glückliche Sekunde erlebt hat?
    Verzweifelt sah sie sich nach einer Waffe um. Es gab keine.
    Sie sprang an dem Ungeheuer hoch und versuchte es in den Schwitzkasten zu nehmen, doch es durchbrach ihren Griff mit roher Gewalt und schleuderte sie über den Kopf zu Boden. Tränen standen in ihrem Augen, als sie zu der Bestie aufsah. Ihr Rücken fühlte sich an, als wäre er in tausend Stücken. Mühsam drehte sie sich um, kroch ein Stück weiter, entging einem seiner Tritte, kam japsend auf die Beine und stolperte zurück ins Labor. Plötzlich hatte sie eine Idee. Eigentlich waren es zwei Ideen, und sie hatte nur eine Chance, wenn beide Vermutungen sich als richtig erwiesen.
    Während sie durch das Labor taumelte, riss sie Schubladen auf, wühlte den Inhalt heraus. Wenig Brauchbares. Eine spitze, stabil wirkende Schere fiel ihr in die Hand. Besser als nichts.
    Sie hatte die große Skizze erreicht, die an der Wand hing. Der Körper von Dr. Nomuras zweitem Sohn, darauf der gelbe Punkt, der das Bild lokalisierte, welches ihm Leben gab. Vorher war ihr so gewesen, als scheine eine andere Skizze auf der Rückseite durch. Eilig riss sie das Papier von der Wand, drehte die einzelnen Blätter um. Einige davon flatterten zu Boden, andere gingen in Fetzen. Trotzdem war noch genug zu erkennen.
    Tatsächlich gab es eine Skizze auf der Rückseite. Und sie zeigte das, worauf Madoka gehofft hatte: Den ersten Sohn, mitsamt seinen zwei überzähligen Armen!
    Irgendwie hatte sie das gespürt. Es ging nicht um so etwas Lächerliches wie die Einsparung von Papier. Es hatte eine tiefe symbolische Bedeutung, dass die Medizinerin ihr zweites Geschöpf auf der Rückseite des ersten entworfen hatte. Sie wollte nicht, dass beide nebeneinander existierten. Mit dem zweiten Sohn wollte sie den ersten überschreiben.
    Diese Skizze enthielt drei gelbe Punkte, und sie verteilten sich entlang des Rückgrats in gleichmäßigen Abständen auf den Brust- und Lendenwirbeln. Madoka versuchte sich die Positionen exakt einzuprägen. Wenn überhaupt, dann hatte sie nur eine einzige Chance.
    Das Wesen war längst heran. Was es bremste, war das Verhalten seines Opfers. Warum griff es nicht mehr an? Warum rannte es nicht weg? Warum ignorierte es ihn und starrte auf diese bemalten Fetzen? – So jedenfalls interpretierte Madoka sein Zögern. Die Schere lag fest in ihrer Hand. Langsam stellte sie sich dem Monstrum entgegen, hob in zeitlupenhafter Bewegung ihre einzige Waffe. Sie musste seinen Rücken erreichen, und das ging nur, wenn sie ihn überlisten konnte.
    Er ließ sich Zeit. Musterte sie.
    Ihr Körper schmerzte überall, und aus ihrem Mund rann noch immer Blut, tropfte von ihrem Kinn. Es fiel ihr schwer, sich zu konzentrieren. Wenn sie den Moment verpasste, in dem er …
    Jetzt!
    Seine Rechte schoss vor. Gleichzeitig zog sie die Schere zurück. Sprang. Schob sich neben ihn. Sein zuckender Zusatzarm traf sie wieder, diesmal in die Seite. Sie stöhnte, kämpfte sich weiter. Sein Körper schien die gesamte Breite des Laborraums auszufüllen. Sie unterdrückte den Impuls, mit der Schere zuzustechen, um sich Platz zu verschaffen. Sie würde damit nichts erreichen. Er würde den Schmerz nicht spüren und würde auch nicht sterben, selbst wenn sie sein Herz, seine Leber oder seine Lunge traf. Die Kraft, die in den Filmbildern steckte, würde ihn weiter am Leben halten.
    Geschafft! Sie war an ihm vorbei. Wirbelte herum. Für eine Sekunde hatte sie seinen ungedeckten Rücken vor sich. Gleich würde er sich drehen, unverschämt viel schneller, als es bei dieser Masse zu erwarten war.
    Madoka legte in Gedanken die Skizze über seinen Körper. Sie konzentrierte sich so sehr, dass sie die gelben Punkte

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