Falkengrund Nr. 29
Genauso fühlte er sich.
„Sie sagen, wir sollen es uns ansehen.“
„Wie lange bist du eigentlich schon hier, Sancho?“, erkundigte sich Fachinger irritiert. Der Dienst seines Mitarbeiters begann eigentlich um neun, wie sein eigener, und bis dahin waren es noch fünf Minuten.
„Seit halb acht“, erwiderte der kleine, hagere Spanier. „Ich dachte, ich könnte etwas vorarbeiten, für den Fall, dass du …“
„Mir geht’s wunderbar“, knurrte der Hauptkommissar und massierte sich die Schläfen. „Mir ging’s noch nie so gut.“ Er schloss die Augen und wäre sofort eingeschlafen, hätte sein Kollege sich nicht neben ihn gestellt und ihn sanft, aber ausdauernd mit dem Finger in die Schulter gepiekt.
Wenige Minuten später wünschte er sich, er wäre im Bett geblieben.
Was ihn in der Wohnung erwartete, war … außergewöhnlich. Dabei hatte das Haus an sich eher einen durchschnittlichen Eindruck gemacht – ein Altbau, gut in Schuss, zwölf Wohnungen der mittleren Preisklasse, Blumen auf den Fensterbänken, Kindergeschrei im Treppenhaus, der Geruch von Kaffee, dazu die üblichen Details, die man schon gar nicht mehr wahrnahm.
Das Ungewöhnliche begann bei der Wohnungseinrichtung. Schwarze Ledermöbel, eine gut sortierte Bar mit einem Tresen ganz aus Metall – Messing, um genau zu sein. Spiegelschränke, ein Spiegel auch an der Schlafzimmerdecke. Große Poster mit Männerakten bedeckten die Wände, mehrere davon überschritten deutlich die Grenze zur Pornographie. Muskelbepackte, tätowierte Körper, manche mit riesenhaften Geschlechtsteilen, andere mit winzigen Phalli wie griechische Statuen. Es roch nach Zigarettenrauch und Reinigungsmitteln.
Und nach Tod.
Der weiße Wohnzimmerteppich hatte einige Weinflecken, die nicht auffielen, weil er jetzt mit Blut beschmiert war. Fast genau in der Mitte des Raumes, gleich neben einem niedrigen Glastisch, zeichneten sich grob die Konturen eines Menschen ab, der dort gelegen und heftig geblutet haben musste. Dabei hatte er sich wohl gewunden, mit dem Tod und mit den Schmerzen gekämpft. Das Blut musste wie eine Fontäne aus ihm herausgeschossen sein, denn Blutspritzer fanden sich fast überall im Raum, auch an den Wänden und in geringen Mengen sogar an der Decke. Die Rollläden waren heruntergelassen, das künstliche Licht hatten die Beamten eingeschaltet. In einer Ecke des Zimmers stand auf einem kleinen Tischchen ein Aquarium, dessen Scheibe nichts abbekommen hatte. Die üblichen Zierfische schwammen dort nervös hin und her und zogen Fäden aus Kot hinter sich her. Fachinger fand das immer abstoßend. Er mochte keine Fische, nicht auf dem Teller und nicht sonst wo. Und er mochte keine Menschen, die Fische hielten. Mit starrem Blick stellte er sich an eine Seite des Raumes, fragte sich, warum so eine Schweinerei ausgerechnet in seinem Zuständigkeitsgebiet geschehen musste.
Godfredson, der Mann von der Spurensicherung, war vor ihnen eingetroffen. Der großgewachsene Schwede, den die Liebe zu einem Schwarzwaldmädchen nach Deutschland getrieben hatte, stakste zwischen den Blutflecken hindurch und tat seine Arbeit. Er wirkte nicht besonders angewidert von dem Ganzen – das Mädchen, das er geliebt hatte, hatte ihn unlängst verlassen, und seither war der ohnehin wortkarge und emotionslose Mann noch verschlossener geworden.
„Wo ist der Tote?“, wandte sich Fachinger an ihn. „Man hat ihn doch nicht etwa abtransportiert?“
„Jedenfalls nicht mit unserem Einverständnis“, antwortete Godfredson.
„Es gibt keine Leiche?“
„Jedenfalls nicht in dieser Wohnung.“ Er liebte Sätze, die mit „jedenfalls“ oder „zumindest“ begannen. Sie schienen ihm auf der Zunge zu zergehen.
„Der Mörder hat den Toten also mitgenommen“, konstatierte Fachinger. Allmählich verstand er auch die merkwürdige Formulierung in Faros Notizen: Wahrscheinlich Mord, vielleicht auch Körperverletzung und Entführung. Solange man die Leiche nicht fand, konnte man nicht sicher sein, ob hier wirklich jemand zu Tode gekommen war. Allerdings hatte er nicht den Eindruck, dass jemand diesen Blutverlust überstehen konnte. Er sprach Godfredson darauf an, und dieser meinte: „Höchstens, wenn der, der ihn mitgenommen hat, ein Unfallarzt war.“
Fachinger spürte, wie das Schwindelgefühl wieder zurückkehrte, und er musste sich an der Wand abstützen. Dafür fing er sich einen tadelnden Blick von Godfredson ein. Als er die Hand wieder von der Tapete nahm, klebte Blut an
Weitere Kostenlose Bücher